Detmold. Am zweiten Tag des Lügde-Prozesses haben mehrere Opfer ausgesagt – und es gab eine überraschende Wende: Ein Verfahren wird abgetrennt.
Eine überraschende Entwicklung auch am Tag zwei des Lügde-Prozesses um den hundertfachen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen: Das Verfahren gegen einen der drei Angeklagten vor dem Landgericht Detmold wird abgetrennt. Der Prozess, der am Donnerstag unerwartet mit Geständnissen aller drei Männer begonnen hatte, könnte zudem mit deutlich weniger als den ursprünglich geplanten 53 Zeugen auskommen und damit verkürzt werden.
Am Freitag werden die ersten vier Zeugen gehört, darunter zwei der mutmaßlich insgesamt 34 minderjährigen Opfer. Auch ein zehnjähriges Mädchen ist dabei, es tritt unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Gerichtssaal. Die Kleine ist schwer traumatisiert. Ein Opferanwalt sagt am Rande der Verhandlung über die misshandelten Jungen und Mädchen: "Ihre Kindheit ist zerstört."
Hunderte Fälle schlimmsten Missbrauchs
Über viele Jahre hinweg sollen Minderjährige in mehreren hundert Fällen teilweise schwer sexuell missbraucht und dabei gefilmt worden sein – auf einem Campingplatz in Lügde und in einer Wohnung in Steinheim in Nordrhein-Westfalen.
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Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda entscheidet am Freitag zunächst, das Verfahren gegen den 49-jährigen Heiko V. aus Stade in Niedersachsen abzutrennen. Er soll sich in Webcam-Übertragungen angesehen haben, wie Minderjährigen schwere Gewalt angetan wurde, teilweise soll er dazu angestiftet haben. Sein Einzelverfahren geht am 17. Juli weiter.
Im laufenden Missbrauchsprozess sitzen also noch zwei Männer auf der Anklagebank – der 56-jährige Andreas V. aus Lügde und der 34-jährige Mario S. aus Steinheim. Sie sollen die brutalen Taten verübt, auch vergewaltigt haben.
Zeugen im Lügde-Prozess sagen nicht-öffentlich aus
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Alle vier Zeugen sagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus – zuerst eine heute 19-jährige Betroffene. Offenbar will sie ihrem mutmaßlichen Peiniger Andreas V. ins Gesicht sehen: Sie möchte ausdrücklich, dass die Angeklagten den Saal nicht verlassen, wie ihre Anwältin betont.
Andreas V. will sich entziehen – raus aus dem Raum. Sein Verteidiger beantragt das, erfolglos. "Nein, das soll er sich ruhig anhören", sagt Richterin Grudda. Dann werde er sein Gesicht mit einer Akte verdecken, erwidert der Verteidiger. "Ja, soll er sich dahinter verstecken", kontert die Richterin.
Sensibler Umgang mit den traumatisierten Opfern
Dann sind das zehnjährige Mädchen und ihre Mutter dran. Beide sind in therapeutischer Behandlung, schildert Roman von Alvensleben, der das Mädchen vertritt. Was im Saal gesagt wird, dringt nicht nach draußen. Aber Richterin Grudda stellt zuvor klar: "Ich werde meine Robe ausziehen und mich nach unten setzen." Sensibler Umgang ist gefordert. Alle Nebenkläger verlassen vorher den Raum. Zu viele fremde Menschen, zu viele schwarze Gewänder – das könnte das Mädchen verängstigen. Die Kleine kommt zusammen mit einer psychosozialen Prozessbegleiterin.
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Opferanwalt Roman von Alvensleben sagt vor der Saaltür: Im Sommer 2018 sei die damals Neunjährige von Andreas V. missbraucht worden. Der Kontakt sei über ihre Freundin gelaufen, die als Pflegekind bei Andreas V. auf dem Campingplatz lebte und ebenfalls sexuell misshandelt wurde. "Hätten die Behörden halbwegs optimal gearbeitet, wäre meiner Mandantin das Leid erspart geblieben. Denn es gab viele Hinweise auf Andreas V. Wie kann ein Jugendamt so einem Mann eine Pflegetochter anvertrauen?" Im Fall Lügde wird wegen zahlreicher Pannen auch gegen Mitarbeiter von Polizei und Jugendämtern ermittelt.
Wie geht es den Opfern von Lügde heute?
Auf keinen Fall sollten die jungen Zeugen noch mal mit den erlittenen Taten konfrontiert werden, mahnt Opferanwalt Thorsten Fust. Er vertritt einen Jugendlichen, der zehn Jahre alt war, als die Übergriffe begannen. Vier Jahre habe der Angeklagte Mario S. den Jungen gequält. "Vergewaltigung, weiterer schwerer sexueller Missbrauch, jegliche Abartigkeit", sagt Fust. Sein Mandant sei in psychologischer Behandlung, beginne nun eine Therapie.
Das Gericht hatte klargestellt, dass man sich vor allem ein Bild machen möchte, wie es den Opfern heute geht. Der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, unterstreicht: "Die Kinder und ihre Familien haben Schreckliches durchgemacht. Sie brauchen unser Mitgefühl und unseren Schutz." Er fügt hinzu: "Ich hoffe sehr, dass es für die vielen betroffenen Familien vor Ort genug Unterstützungsangebote durch Fachberatungsstellen und spezialisierte Therapeuten gibt."
Alle Bundesländer müssten Defizite im Kinderschutz analysieren, um eine bessere Zusammenarbeit aller Akteure zu schaffen. "Damit allen Kindern und Jugendlichen wenigstens künftig überall bester Schutz und beste Hilfe geboten werden", sagt Rörig. (dpa)