Essen. Ein Essener Programmierer (41) gründete jetzt den ersten Origami-Stammtisch im Revier. Er faltete schon als Kind und konnte es nicht mehr lassen.

Die große Liebe startete als kleiner Papierflieger. Sascha Keyser stand drauf, „wie alle Jungs“, sagt der heute 41-Jährige. Auf der Suche nach technischer Hilfe zur Optimierung der Flugeigenschaften seiner Faltobjekte stolperte er in der Stadtbibliothek über ein Origami-Buch – und versank darin. Mit zehn begeisterte er sich nicht mehr für Flieger, sondern für Dinosaurier – und: wie man sie faltet! „Sozusagen mein Urknall“, lacht der Mann, der im vergangenen Jahr in Essen „Die Pottfalter“ gründete – eine Art Stammtisch für Origami-Begeisterte wie ihn.

Das Wort „Oru“ steht im Japanischen für Falten, und „Kami“ für Papier. Aus beidem wurde Origami, die Kunst des Papierfaltens (Nennen Sie es bloß niemals: Basteln!). Entstanden ist Origami wahrscheinlich in China, aber schon im Jahr 610 brachten es buddhistische Mönche nach Japan. Tempelschmuck und Haushaltsgegenstände wurden fortan aus Papier gefertigt, „auch aus Mangel an anderen Rohstoffen“, erzählt Keyser. Rasch entwickelten sich zudem einige wenige traditionelle Modelle, der Kranich etwa, den zu falten einst jedes Kind von den Eltern lernte. „Wer den Papierkranich ursprünglich erfand, weiß man gar nicht mehr“, berichtet Keyser. Diese Faltung sei Jahrhunderte alt, „war eigentlich eher so etwas wie ein Gebet“.

Viel Werkzeug benötigt man nicht, „ein Fingernagel tut’s“

Seine Blumensträuße faltet der Essener Origamist natürlich selbst (nach einem Modell  David Colliers).
Seine Blumensträuße faltet der Essener Origamist natürlich selbst (nach einem Modell David Colliers). © FUNKE Foto Services | André Hirtz

In der Teenagerzeit wurde ihm anderes wichtiger, als Ritter Blaubarts Burg aus Papier zu falten („eine ganze Woche saß ich da mit 13 dran!“). Sascha Keyser entdeckte sein Hobby aus Kindertagen jedoch während eines langen Krankenhausaufenthaltes neu – als eines auch für Erwachsene. Es ließ ihn seither nicht mehr los, sagt er. Ein verblasstes „Five Intersecting Tetrahedra“ (fünf ineinander verwobene dreiseitige Tetraeder nach einem Modell von Thomas Hull), dass in der Klinik entstand, ziert noch immer die Fensterbank in seinem Wohnzimmer. Modulares (zusammengestecktes) Origami ist heute Keysers Lieblingstechnik, doch es gibt ungezählte andere, von Wetfolding (mit nassem Papier) über die Mosaik-ähnlichen Tessellations bis hin zum zerknüllten Crumpling.

Viel Werkzeug braucht es dagegen nicht: Pinzette, Falzbein und einen Pre-Squeezer, ein Gerät zum Vorziehen der Falten, reichten Keyser selbst für sein bislang aufwändigstes Stück: ein „Kusumudama“, eine Blütenkugel – ebenfalls ein sehr altes Modell, das die Japaner aber noch heute mit duftenden Kräutern füllen und im Haus aufhängen. „Zur Not tut’s aber auch der Fingernagel allein“, behauptet der Origamist. Im Schlafzimmer hat sich der Essener Anwendungsentwickler inzwischen einen eigenen Origami-Werkplatz eingerichtet, ganze Wochenenden kann er dort verbringen.

„Kunstwerke, nicht für die Ewigkeit“

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Dass Origami heute so populär ist, liegt vor allem an Akira Yoshizawa (1911-2005), dem Japaner, der das Papierfalten revolutionierte. Er brach mit den traditionellen Vorlagen, befreite das Origami von seinem rituellen, spirituellen Kontext und brachte neue Modelle als Kunstwerke in die Museen. Er entwickelte zudem eine eigene Origami-Sprache, ein System aus einfachen Zeichnungen (Diagrammen) als universell verständliche Faltanleitung. „Dass die beste Fachliteratur nur auf japanisch zu haben ist, macht deswegen nichts“, sagt Keyser. Das „Yoshizawa-Randlett-System“ erkläre sich von allein. Allerdings für einen wie ihn vermutlich eher als für andere. Der Laie blickt bei all den Berg- und Tal-, Knick- und Senk-, Quetsch- und Zickzack-, Hasenohr- und Blütenblattfaltungen sehr rasch nicht mehr durch. „Nicht alles gelingt auf Anhieb“, winkt Keyser ab. „Und Schneebälle“ sind doch auch schön...“.

Dieser Tetraheder (nach Thomas Hull) entstand in einer Klinik, wo Sascha Keyser sein altes Hobby neu entdeckte. „Fällt schon auseinander“, sagt er.
Dieser Tetraheder (nach Thomas Hull) entstand in einer Klinik, wo Sascha Keyser sein altes Hobby neu entdeckte. „Fällt schon auseinander“, sagt er. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Origami habe sowas Meditatives, schwärmt der Programmierer. „Wenn man faltet, ist man im Tunnel, konzentriert sich auf nichts anderes.“ Und man komme dem Künstler, dem, der das Modell geschaffen habe, „sehr nah“. Aber Keyser mag auch das Geometrische an dieser Kunst und dass sie aus Papier gemacht ist, „nicht für die Ewigkeit“. Fast alle seine Kunstwerke verschenkt er. Als Deko-Objekte seien sie „ziemlich begehrt“.

Corona stoppte die Treffen im Essener Unperfekthaus

Da Origami aber auch „ein recht einsames Hobby“ ist, rief er im vergangenen Jahr eine Runde Gleichgesinnter ins Leben: „Pottfalter“ nannte er sie, einmal im Monat wollte man sich im Essener „Unperfekthaus“ treffen und austauschen. „Big C“, wie Keyser sagt, stoppte die Treffen bald: Corona durchkreuzte auch seinen schönen Plan. Nach der Pandemie soll es aber weitergehen. Interessierte sind herzlich willkommen, Profis genauso wie die, „die nur mal gucken wollen, ob Papierfalten was für sie ist“, sagt Keyser.

Yoshizawas Revolution (und einer bildschönen Zikade mit sechs Beinen) folgte übrigens in der 60er-Jahren tatsächlich ein Krieg, der „Bug-War“: ein ambitionierter Wettstreit um den „lebensechtesten“ Falt-Käfer. „Bis dahin“, sagt Keyser, „hatte man angenommen, Insekten ließen sich gar nicht falten….“.

Sein nächstes Projekt ist übrigens ein Falt-Bike im Mini-Format: mit Sattel, Lenker, Pedalen und achteckigen Rädern. Keyser steht jetzt auf Fahrradfahren...

Die Pottfalter: Info unter https://pott-falter.de/Kontakt: telefonisch unter +49 201 8463912 oder via Mail unter info@pott-falter.de

>>>> INFO Sadako Sasakis traurige Geschichte der 1000 Papierkraniche

Der Kranich steht in der japanischen Mythologie seit Urzeiten für Gesundheit und Glück, ist ein traditionelles Faltmotiv im Land der aufgehenden Sonne. Ein kleines Mädchen aber machte Sembazuru, die Legende der 1000 Origamikraniche, 1955 weltberühmt. Sie geht wie folgt: Wer 1000 Papierkraniche faltet, dem gewähren die Götter einen Wunsch. Ist er etwa krank, wird er gesund – und 1000 Jahre leben, wie der Kranich.

Der traditionelle Papierkranich: Sascha Keyser hat er erst zwei davon gefaltet. 998 fehlen ihm – für ewige Gesundheit, der Legende zufolge.
Der traditionelle Papierkranich: Sascha Keyser hat er erst zwei davon gefaltet. 998 fehlen ihm – für ewige Gesundheit, der Legende zufolge. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Sadako Sasaki war zwei, als in ihrem Heimatstadt Hiroshima die Atombombe fiel – zweieinhalb Kilometer von ihr entfernt. Ihre Eltern kamen ums Leben, sie selbst schien unversehrt. Bis die Ärzte 1955, drei Tage nach ihrem 12. Geburtstag, Leukämie bei Sadako diagnostizierten: die „Atombombenkrankheit“. Chizuko, ihre beste Freundin, brachte bei einem Besuch im Krankenhaus Papier und eine Anleitung mit, erzählte von Sembazuru. Sadako Sasaki wollte unbedingt gesund werden, sie fing sofort an zu falten. 644 Papierkraniche schaffte sie bis zum 25. Oktober 1955, dem Tag, an dem sie starb.

Ihre Klassenkameraden trauerten sehr um die beliebte Schülerin, eine talentierte Läuferin. Viele hatten beim Falten geholfen, so dass das Sterbebett des kleinen Mädchens tatsächlich von insgesamt 1600 Oruzukus, Origami-Kranichen, umgeben war. Nach dem Tod Sasakos gingen ungezählte weitere ein.

Ein Reporter griff die Geschichte auf, als die Kinder anfingen Spenden zu sammeln, um ihrer toten Klassenkameradin ein Denkmal zu errichten. Heute steht die Bronzestatue auf einem sieben Meter hohen Sockel mitten in Ground Zero. Sadako Sasaki wurde zur weltweit bekanntesten Hibakusha, Überlebenden der Atombombenabwürfe – und der Origamikranich zum internationalen Symbol des Widerstands gegen den Atomkrieg und der Friedensbewegung vor allem im asiatischen Raum.

>>> INFO: Origami Deutschland

Die Japanese Origami Society ist die weltweit größte. Bei uns haben sich die Fans organisiert im Verein Origami Deutschland mit Sitz in Gera. Er zählt 600 Mitglieder, so die Vorsitzende Marlene Rostig, viele davon kämen aus NRW. Das Papierfalten, sagt sie, sei auch in der europäischen Kultur früh bekannt gewesen – und Teil der Pädagogik Friedrich Fröbels (geb. 1782 in Thüringen). Sein „Himmel und Hölle“ kenne jeder. Fröbel gilt als Begründer der Kindergarten-Idee, brachte sie auch nach Japan (samt Papierfalten, sagt Rostig).

>>>INFO: Das richtige Papier

Standardgröße für Origami-Papier ist 15 x 15 Zentimeter. Alles zwischen 2,5 x 2,5 und 70x70 ist aber relativ leicht zu bekommen. Doch mancher mag es kleiner, arbeitet mit Laborpinzetten unter dem Mikroskop. Andere dagegen falten (in Turnhallen) Elefanten in Originalgröße. Und die Japanischer Weltraumbehörder schickte 2004 eine Rakete ins All – mit einem von einem Origami-Spezialisten gefalteten Sonnensegel an Bord

8 Eurozahle man für 100 Blatt (beidseitig buntem) Duo-Color-Papier im Bastelladen, so Keyser. Doch mit dem Können wüchsen die Ansprüche und die Auswahl sei riesig. Er arbeitet sehr gern mit Tissue-Foil, metallisiertem Papier. Fünf Blatt seien für um die 9 Euro im Fachhandel zu finden. 50 Euro ist Fans ein einziges Blatt handgeschöpftes Origami-Papier (Washi) wert. Hier es sei nur unter der Hand zu haben.