Bochum. . Großbaustelle in Bochum: Mitten im Revier wächst der Gesundheitscampus NRW. Seit 2009 ist das ehrgeizige Projekt geplant, jetzt geht es in die Zielgerade - allerdings mit Verspätung. Zum Wintersemester hatte etwa die Hochschule für Gesundheit den Betrieb auf dem Campus aufnehmen wollen. Jetzt verzögert sich der Umzug um mindestens ein Jahr.

Wuselige Großbaustelle in viel Staub rechts, einzelne Gebäude in viel Grün links. Die Allee dazwischen trug mal den Namen Oesterendestraße, nun heißt sie „Gesundheitscampus“. Was genau wächst da im Schatten der Ruhr-Uni? Ein Standort, eine Vision?

2009 gab Jürgen Rüttgers, damals NRW-Ministerpräsident, bekannt, dass Bochum Heimat des neuen Gesundheitscampus NRW werde. Eine Idee wurde damit örtlich verankert, sozusagen: geerdet! Vorbild sollten die National Institutes of Health in den USA sein (20.000 Mitarbeiter, 35 Milliarden Dollar Budget), hieß es. Es kam eine Nummer kleiner, aber trotzdem gelegen. In Bochum war die Freude „riesengroß“.

140 Millionen Euro Investitionen

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Nicht nur, weil die Stadt auf 4000 neue Arbeitsplätze hoffte. Bochum und Gesundheit – „das passt wie Faust aufs Auge“, sagt Heinz-Martin Dirks, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Bochum GmbH. Es gäbe in der einst zechenreichsten Stadt Europas, die nur zwei Jahre, nachdem ihr erster (!) Pütt schloss, eine Uni baute, inzwischen „ungeheures“ Know-how im Bereich Gesundheit. Zehn Millionen Euro gab die Stadt zum Prestige-Projekt hinzu; Land und EU den Rest. Finanzvolumen insgesamt: stolze 140 Millionen!

Damit fiel der Startschuss für den Gesundheitscampus Nord, auf dem das Land seine Aktivitäten und Einrichtungen im Bereich Gesundheitswirt- und -wissenschaft bündeln will. Parallel dazu begannen die Planungen für den Gesundheitscampus Süd als städtische Entwicklungsfläche für innovative Firmen aus eben dieser Branche. Fünf Jahre später: Ist man in Bochum stolz auf das Erreichte, steht beidseits der Straße „Gesundheitscampus“ auch schon manches (siehe unten) aber leider nicht alles zum Besten.

Mehrkosten in sechsstelliger Höhe

Erst 25 Prozent der Fläche „Süd“ sind vermarktet. „Da könnte noch ein bisschen was passieren“, gibt Dirks zu. Die „Nord“-Flächen, die vom landeseigenen Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB) erschlossen werden, sind zwar komplett vergeben. Aber: Die Hochschule für Gesundheit (hsg), das „Herzstück“ des Campus, wartet noch immer auf die Fertigstellung ihrer Gebäude. In diesen Tagen hatte man vom Provisorium in der Stadt auf den Campus wechseln wollen.

Im Mai erklärte der BLB, die Arbeiten verzögerten sich, im August hieß es, frühestens zum Wintersemester 2015 – ein Jahr später als geplant – könne die hsg den Campus -Betrieb aufnehmen: Probleme beim Brandschutz. Ausgerechnet die Firma, die für den Bauskandal am Flughafen Berlin verantwortlich gemacht wird, soll in Bochum am Werke gewesen sein. Werner Brüning, hsg-Vizepräsident, rechnet mit Mehrkosten in sechsstelliger Höhe. Auch um den Campus tut es ihm leid, sagt er. Dem fehle doch ohne Menschen das Leben.

Warum der Gesundheitscampus gebraucht wird 

Herausforderung demografischer Wandel

2050 werden nur noch 15,7 Millionen Menschen in NRW leben (heute: 17,9.) 4,9 von ihnen werden älter als 65 sein, 930 000 pflegebedürftig. Das heißt: Bald schon wird es deutlich mehr Alte geben, die Hilfe benötigen – und gleichzeitig deutlich weniger Junge, die sie leisten können. „Wenn wir in den bisherigen Strukturen weitermachen, wird das nicht gut gehen“, glaubt Dr. Arndt Winterer, Leiter des Landeszentrums für Gesundheit, einer Art Stabsstelle des Landes am Campus.

Den demografischen Wandel zu schultern: eine Riesenaufgabe. „Am besten, wir fangen einfach mal an“, sagt Winterer, „lokal verankert in Bochum, ausgerichtet aufs ganze Land!“ Das Ruhrgebiet hält er dabei für den idealen Standort. Die Menschen hier seien kränker als andere: die Lebenserwartung eines Revierbürgers liege über ein Jahr unter dem Durchschnitt.

Mehr Lärm und viel Verkehr plagen das Revier

Es gebe hier weniger Grün, dafür mehr Lärm, Verkehr, Raucher und Übergewichtige, soziale Folgen des Strukturwandels. „Gesundheit und Gesundheitsverhalten sind schichtenspezifisch“, erklärt Winterer. Gleichzeitig stecke das Revier voller Potenzial: 300 000 Beschäftigte in der Gesundheitswirtschaft, eine „beeindruckende“ Kliniklandschaft, 40 Unternehmen im Bereich Telemedizin („Weiß nur keiner!“). Eine Region also, „der nach Kohle, Stahl und Opel das Zukunftsthema Gesundheit gut steht.“

Im November 2009 startete die Hochschule für Gesundheit (hsg) als deutschlandweit erste staatliche Hochschule für Gesundheitsberufe. „Mehr als einen politischen Auftrag gab es damals nicht“, erinnert sich Vizepräsident Werner Brüning. Heute sind 750 Studenten eingeschrieben, kann man an der hsg Hebammenkunde, Logopädie, Pflege, Ergo- und Physiotherapie studieren, seit Oktober auch zwei Fächer im Bereich der Gesundheitsversorgung. Die Nachfrage ist sehr viel größer als das Angebot, die Übergangsgebäude platzen aus allen Nähten. Erst nach dem Umzug auf den Campus wird Platz sein für die angepeilten 1300 Studenten.

Enormer Arbeitsaufwand für die Studenten

In diesem Jahr wurden die ersten Absolventen verabschiedet, darunter Catrin Kramer (34): Hebamme mit Bachelor-of-Science-Abschluss. Vor vier Jahren kam sie an die hsg, ihretwegen zog sie von Berlin nach Bochum. „Ich empfinde es als ungeheures Glück, dass ich diesen Weg einschlagen durfte“, sagt sie – obwohl es kein leichter war. Der Arbeitsaufwand ist enorm: hsg-Studenten absolvieren die ganz normale Berufsausbildung inklusive aller Theoriemodule, Praxisstunden und dem Staatsexamen. Die Qualifikationen für ihren akademischen Abschluss sammeln sie parallel.

Partner für die Praxisausbildung zu finden, war zunächst nicht leicht. „Alles, was neu ist, stößt ja gern auf Ablehnung“, erklärt Brüning – und Akademiker als Krankenschwestern oder Ergotherapeuten waren neu. Dabei wolle man die „klassische, absolut gute Ausbildung“ gar nicht in Frage stellen, nur ergänzen. Der Arbeitsmarkt müsse die Integration leisten. Bei Handwerken und Ingenieuren sei das auch gelungen.

Absolventen ist ein Job so gut wie sicher

Man werde genau beobachten, welchen Weg die Absolventen einschlagen. Erste (schöne) Erkenntnis: Sie werden wenig Probleme haben, einen Job zu finden.

Bessere berufliche Perspektiven erhoffte sich auch Elena Cramer (20), als sie sich 2013 für ein Physiotherapie-Studium bewarb. Dazu kam der Wunsch: später „auf Augenhöhe“ mit den ärztlichen Kollegen kommunizieren zu können.

Catrin Kramer hat längst einen Job gefunden. Eigentlich sogar zwei: im Kreißsaal des Klinikums Niederberg und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der hsg.

Interview mit dem Patientenbeauftragten Dirk Meyer 

Dirk Meyer (55) ist seit 2013 „Patientenbeauftragter des Landes“. Ute Schwarzwald sprach mit ihm.

17 Millionen Menschen/Patienten leben in NRW. Haben Sie viel zu tun?

Dirk Meyer: Ich kann nicht klagen! Allein im vergangenen Jahr wandten sich 1100 Menschen an mich.

Was wollte der erste Anrufer?

Dirk Meyer: Es war eine Frau, die schilderte, welche Odyssee ihre Mutter im Sterbeprozess durchlitt. Bei der stationären Versorgung lief vieles falsch. Ich hörte zu, leitete ihre Darstellung an die betroffenen Kliniken weiter und bat, sich mit den angesprochenen Problemen auseinanderzusetzen. Die Frau rief später erneut an: um mir zu danken für die emotionale Entlastung, die sie erfahren hatte.

Dirk Meyer, Patientenbeauftragter des Landes NRW.
Dirk Meyer, Patientenbeauftragter des Landes NRW. © Ingo Otto/WAZ FotoPool

Welches sind die Hauptanliegen „ihrer“ Patienten?

Dirk Meyer: Beschwerden über ambulante oder stationäre Versorgung, Krankenversicherungen, Patientenrechte. Dazu kommen Probleme bei der Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln.

Verstehen Sie sich eher als Streit-Schlichter oder eher als Anwalt des Patienten?

Dirk Meyer: Ganz deutlich als Anwalt. Aber das heißt auch: gestörte Kommunikation neu aufzugreifen.

Wie hoch ist Ihre „Erfolgsquote“?

Dirk Meyer: Bei konkreten Beschwerden finden wir in 70 Prozent eine Lösung. Eine ziemlich hohe Quote, wenn man bedenkt, dass wir es nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben.

Welches Problem, ganz konkret, konnten sie beispielsweise lösen?

Dirk Meyer: Einmal kam ein Patient mit chronischen Hals- und Lendenwirbelbeschwerden. Er brauchte regelmäßig Massagen, der Hausarzt verschrieb nur sechs pro Quartal – mehr sei im Budget nicht drin. Seit 2011 dürfen aber über „Langzeitverordnungen“ mehr Massagen verordnet werden. Am Ende waren beide froh: Der Patient bekam mehr Massagen, das Arzt-Budget wurde nicht belastet.

Wie gefällt es Ihnen auf dem Gesundheitscampus?

Dirk Meyer: Einerseits: Sehr gut. Andererseits: bin ich für Menschen mit Beeinträchtigung per ÖPNV so gut wie nicht zu erreichen. Aber die Haltestelle soll ja bald kommen...