Ruhrgebiet. . Wenn Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden, wachsen die Anforderungen an Lehrer. Die fühlen sich allzu oft allein gelassen. Sie fordern mehr Personal und eine bessere Ausbildung.

In der dritten Klasse stiehlt die Gans dem Fuchs an diesem Tag die Schau. Es ist eine Fabel, die Schüler spielen sie nach, sechs-, siebenmal in wechselnder Besetzung. Offenbar ist das Federvieh diesmal schlauer als der Fuchs, aber schlau daraus geworden sind nicht alle: Es sitzt ein stark hörgeschädigtes Kind im Raum, drei der kleinen Schauspieler sind sprachbehindert, ein vierter hat dazu emotional-soziale Probleme.

Er hört nicht zu, streckt seiner Schere die Zunge heraus. Der Rest ist die übliche Mischung aus Lernstarken- und schwachen, Stillen und Rabauken, 24 insgesamt in dieser Grundschulklasse – der Förderlehrer kommt sieben Stunden in der Woche. Geht so Inklusion?

Die Ministerin

„Inklusion“, sagt Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne), „wird an vielen Schulen in Nordrhein-Westfalen erfolgreich gelebt.“ Sie sei eine „Chance, unsere Gesellschaft reicher, toleranter, offener und menschlicher zu machen“. Und das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderungen soll noch besser werden: Bis 2017 soll nach Löhrmanns Gesetzentwurf die Hälfte aller behinderten Kinder an Regelschulen unterrichtet werden.

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Ab kommendem Jahr soll schrittweise ein entsprechender Rechtsanspruch eingeführt werden. 2000 zusätzliche Lehrerstellen sollen dafür geschaffen werden, dazu Fort- und Weiterbildungsangebote. Soll, soll, soll, soweit die Pläne. Muss!, sagen die, die ja längst integrieren.

Die Klassenlehrerin

Sie müsste sich kümmern um die Fünf aus 24 „mit besonderem Förderbedarf“. Aber „das kann eine Lehrkraft allein nicht auffangen“. Die Kleine mit dem Hörgerät ist pfiffig, für sie hat die Lehrerin eine Art Verstärker, der Klassenraum geräuschdämpfende Gardinen und einen Teppich, über den die Kinder in Pantoffeln laufen.

Die Sprachbehinderten müsste man zur Seite nehmen, logopädisch betreuen. Aber der Klassenraum ist klein (behindertengerecht schon gar nicht), es gibt keinen Platz für Sonderunterricht und selten den nötigen -pädagogen. Eine Stunde am Tag ist die Kollegin da, muss sonst Vertretungen übernehmen und ist eigentlich Fachkraft für Erziehungsschwierige. Vielleicht könnte sie dem Jungen mit der Schere helfen, „der bräuchte jemanden, der neben ihm sitzt“. Die Vermittlung von Werten bleibe so auf der Strecke, sagt die Lehrerin, aber das ist nicht das Schlimmste: „Die anderen Kinder gehen dabei unter. Und die schwachen Schüler sind die großen Verlierer.“ Also die Nicht-Behinderten, die einfach keine Überflieger sind.

Eine gute Pädagogin versucht da gegenzusteuern, überall gleichzeitig zu sein, jeden Tag. Solche Menschen, sagt ein Sonderschul-Kollege mitfühlend, „gehen abends total fertig, aber mit einem permanent schlechten Gewissen ins Bett“.

Die Rektorin

Eine andere Stadt, eine andere Grundschule: Es gibt auch in Velbert Klassen mit bis zu 30 Schülern, der Sonderschul-Lehrer kommt einen Tag in der Woche. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt die Rektorin Bärbel Emersleben. „Inklusion kann aber nur funktionieren, wenn das Personal auch da ist. Zurzeit reicht es in keinster Weise.“ Man sagt nicht mal eben etwas Kritisches in dieser Sache, gerät dann schnell in den Ruch, gegen Inklusion zu sein. Oder schlimmer: gegen Behinderte.

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Bärbel Emersleben aber geht es ums Kind, „was man den Kindern antut, tut uns weh“. Denn sie sieht, dass mancher lernschwache Schüler in einer großen Klasse erst recht stigmatisiert wird, dass sich seine Probleme sogar verstärken. „Kinder merken sehr schnell, dass sie anders sind.“ Reagieren sie auffällig oder bekommen sie die Aufmerksamkeit, die sie ja haben sollen, wird das Umfeld womöglich „gerade aufgebracht gegen das Kind, das integriert werden soll“. Zudem, sagt die Rektorin: „Man muss auch an die stillen und die besonders schnellen Kinder denken.“

Der Sonderschulpädagoge

Er würde nicht klagen, aber nehmen wir einfach die Fakten: ein Sonderpädagoge, zwei Schulen, die nötigen Fahrten von hier nach dort, Inklusions-Klassen mit über 30 Kindern. Dabei hat er noch „Glück“ und eine Ausbildung für Schüler mit geistigen Behinderungen. Damit kann er allen helfen; die Kollegen, die etwa „nur“ Sprachförderung gelernt haben, haben „massive Probleme“: „Jeder geistig Behinderte hat auch Sprachdefizite, aber keinesfalls anders herum!“

Ganz besonders stöhnten die Kollegen über Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, also Förderbedarf für ihre „Emotionale und soziale Entwicklung“: Das hohe Reizangebot in 30er-Klassen statt Unterricht in Kleingruppen, „das schaffen die nicht“! Und die anderen auch nicht: „Ein Bumerang für Kinder ohne Probleme, die dauernden Störungen ausgesetzt sind.“

Von „unfassbarer Unterversorgung“ spricht der engagierte Lehrer. Die Grundschule müsse sich „sächlich und personell deutlich verändern“. Das fängt ja schon bei den Gebäuden an, die gerade in diesem Bereich oft alt-ehrwürdig sind: viele Treppen, kleine Räume, keine Turnhalle. Und dann gibt es ja noch lange nicht genug Sonderpädagogen. Mancher bildet sich berufsbegleitend fort, arbeitet derweil aber schon im Job, „ohne jede Ausbildung“. Die Eltern, sagt der Pädagoge, „müssten sich wehren“.

Und die Schulträger das nötige Geld vom Land bekommen, damit Inklusion funktionieren kann: „Die Politik macht einfach und setzt womöglich eine ganze Generation in den Sand.“