Nürnberg. . Elf Jahre lang wurde die Familie von Semiya Simsek verdächtigt, den eigenen Vater ermordet zu haben. Bis zum Tag, an dem die beiden Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot in einem Wohnmobil aufgefunden wurden. Semiya Simsek hat nun ein Buch geschrieben.

Kann es etwas Schlimmeres geben für ein 14-jähriges Mädchen, als den geliebten Vater sterben zu sehen in seinem Blut? Für Semiya Simsek fing das Grauen damit erst an. Simsek, das ist der Name des ersten Opfers der NSU, von der rechten Terrorzelle erschossen am 9. September 2000. Das weiß man heute. Elf lange Jahre aber suchten die Ermittler den Mörder in der Familie, suchten Antworten bei den Menschen, die doch selbst voller Fragen waren. Und voller Angst.

Die Angst zumindest hat Semiya überwunden, sie hat sie niedergeschrieben im doppelten Wortsinn, zusammen mit ihrer Wut und ihrer Trauer. In einem Buch erzählt die Tochter des Blumenhändlers Enver Simsek (†, 39), wie sie erst den Vater verlor und Jahre später beinahe den Glauben an Deutschland. „Schmerzliche Heimat“ hat sie ihre Geschichte überschrieben; dabei ist sie (Untertitel „Deutschland und der Mord an meinem Vater“) noch nicht zu Ende.

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Dem Vater ist das Buch gewidmet, diesem rechtschaffenen, einfachen Mann, mit dem die Tochter so viel verband. Das eint sie mit der Dortmunderin Gamze Kubasik; die Geschichte Enver Simseks könnte auch die Mehmet Kubasiks sein, Kioskbesitzer, erschossen 2006. Ein Türke, der in Deutschland, „seinem Sehnsuchtsort“, hart schuftet, der sich und seiner Familie etwas aufbaut, das er „ein besseres Leben“ nennt. Richtig inte-griert, sagt Tochter Simsek ehrlich, war er dabei nicht: Er wollte zurück nach Hause, irgendwann. Hier zu leben, „hieß für meinen Vater vor allem: zu arbeiten“. Es wurde zu viel, doch dass Enver Simsek sich zurückzog aus seinem Großhandel, wurde ihm zum Verhängnis: Man tötete ihn, als er selbst an der Straße Blumen verkaufte, wie in den Anfangsjahren.

Jahrelang stand die Familie unter Verdacht

„Neun Schüsse. Raubmord? Ausgeschlossen.“ Der Journalist Peter Schwarz gibt der persönlichen Sicht Semiyas das sachliche Fundament, webt den Hintergrund aus den Polizeiakten, beschreibt das verzweifelte Fahnden nach irgendeiner Erklärung. Die man jahrelang in der Familie vermutet. Die Tochter beschreibt, wie Mutter, Onkel, weitere Verwandte verhört, verdächtigt, bespitzelt werden, wie man sie unter Druck setzt, obwohl sie den Druck kaum selbst aushalten können: Wer hatte etwas gegen den Vater, den Ehemann, „man wird doch nicht einfach umgebracht wegen nichts“. Und: „Wer hatte uns das angetan?“

Erschütternd ist dieses Protokoll der gequälten Hinterbliebenen, die man offensichtlich versucht hat zu brechen, die aber zusammenhalten. Drogenhandel hat man Enver Simsek unterstellt, Mafia-Mitgliedschaft, Schulden, mindestens Ehebruch. „Brutal ermordet worden zu sein“, notiert Semiya, „verwandelte meinen Vater posthum in einen Verdächtigen.“ Die Familie habe „nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“ dürfen.

Niemand ist da, als weitere Männer derselben Tatwaffe zum Opfer fallen, niemand erklärt etwas, als diese Ceska plötzlich gefunden wird: Von der NSU, vom Neonazi-Trio Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt, erfahren Simseks aus dem Fernsehen. Nach elf „Jahren des Unrechts“, erinnert sich Semiya, inzwischen Pädagogin, sei die Wahrheit zwar „befreiend“ gewesen. Das Unrecht aber fühlte sich danach noch größer an. „Mein Vater musste sterben, weil er schwarze Haare und eine dunklere Haut hatte als seine Nachbarn, weil auf seinem Auto ein nichtdeutscher Name stand.“ Was war das für ein Land, in dem sie geboren war? Für Semiya und ihren Bruder bricht eine zweite Welt zusammen: „Wir wissen nicht genau, was wir von diesem Deutschland halten sollen. . . Ist es meine Heimat?“

Semiya (26) lebt heute in der Türkei, sie wollte sich nicht trennen, sie will weiterhin eine Deutsche sein. Aber sie sucht immer noch Antworten. Ihr Buch, in dem sie ihren Anwälten das Schlusswort überlässt, endet ihrerseits mit einem fast verzweifelten Plädoyer für ein Miteinander. Aus dem zwischen den Zeilen immer noch die Defensive klingt: Als meine sie, Deutsch-Türken wie sie selbst verteidigen zu müssen.