Berlin. . Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Rechtsterrorismus bittet Bundeskanzlerin Angela Merkel die Angehörigen um Verzeihung. Sie versprach, alles zu tun, um die Morde aufzuklären.
Elf Jahre lang durfte sie nicht „reinen Gewissens Opfer sein“. So hat es Semiya Simsek empfunden, als ihre Familie, ihre Angehörigen, Bekannten unter Verdacht gerieten. „Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden?“ Kann man natürlich nicht. Es ist die Frage, die viele Angehörige der Opfer der Neonazis bewegt und Angela Merkel gestern auf sich zukommen sah. Der ungerechte Verdacht der Polizei ist für sie besonders beklemmend: „Dafür bitte ich Sie um Verzeihung.“
Der Einblick in die Gefühlswelt der Opfer und der Auftritt der Kanzlerin waren die dichtesten Momente der Gedenkzeremonie im Berliner Konzerthaus. Merkel hat sich von der Polizei nicht distanziert. Nicht allein Beamte hatten stereotype Erklärungen im Kopf. Nur wenige hielten einen rechtsextremen Hintergrund für möglich; weil sich keiner zu den Taten bekannt hatte, was für Terroristen untypisch schien.
Für die Opfer hat Merkel einen Trost - und ein Versprechen. „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären“. Vor allem: „Sie stehen nicht länger allein mit ihrer Trauer.“ Vielleicht gaben gerade diese Worte der heute 25-Jährigen Simsek Kraft.
Seit Tagen war über sie zu lesen, dass sie in die Türkei gehen würde. Nun fand sie neue Antworten auf quälende Fragen. „Bin ich in Deutschland zu Hause? Ja klar bin ich das“, sagt sie. „Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein.“
Betroffenheit genügt ihr nicht. In unserem Land müsse sich jeder frei entfalten können, „lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht“. Sie spricht in der Wir-Form, wohlgemerkt.
Zwölf Kerzen werden gebracht
Der Gendarmenmarkt ist schwer abgeriegelt und wird massiv bewacht, als um 10.30 Uhr die Zeremonie beginnt. 1200 Gäste finden im Schinkel-Bau Platz, Vertreter aller Verfassungsorgane, viele Angehörige sowie Bürger, die sich für Integration stark machen oder zur Türkei eine besondere Beziehung haben. Außer einem Griechen und einer deutschen Polizistin kamen alle Opfer aus der Türkei.
Der Große Saal wird abgedunkelt, und zwölf Kerzen werden einzeln auf die Bühne gebracht und auf ein Podest gestellt. Eine Kerze für zehn ausgelöschte Leben, auf die Merkel einzeln eingeht. Die elfte brennt für alle anderen Opfer rechtsextremer Gewalt, die zwölfte symbolisiert Hoffnung. Das graue Rednerpult, an das Merkel geht, in schwarz gekleidet, steht am Rande der Bühne, dahinter eine Deutschlandflagge. Mit ruhiger Stimme setzt sie ihre Akzente: Die Bitte um Verzeihung, das Versprechen, die Verbrechen aufzuklären, die Scham („eine Schande“), ihr Bekenntnis zu den Zuwanderern. „Wir sind ein Land, eine Gesellschaft“.
Drei Anliegen
Zwei Angehörige waren zuvor angekündigt worden, Simsek und Gamze Kubasik, zwei Töchter. Nach Merkel geht aber Ismail Yozgat auf die Bühne, eine Dolmetscherin an seiner Seite. Sein ermordeter Sohn betrieb in Kassel ein Internet-Café. Drei Anliegen hat Yozgat. Der größte Wunsch ist, dass die Mörder zur Rechenschaft gezogen werden. Er hofft, dass die Straße, auf der sich der Mord ereignete, nach seinem Sohn benannt wird. Sein dritter Wunsch: Eine Stiftung, um anderen Menschen zu helfen.
Yozgat ist es auch, der Christian Wulff dankt. Mit Simsek und all den anderen hatte sich Wulff getroffen. Unter normalen Umständen hätte er die Ansprache gehalten. „Wir sind seine Gäste. Wir bewundern ihn“, sagt er über den früheren Präsidenten. Auch dafür gibt es Applaus, wie für alle Reden der Angehörigen. In der ersten Reihe sitzt der designierte Nachfolger Joachim Gauck.