Essen. . Ihre Todesanzeige formulierte Christine G. aus Essen noch selbst. Dann brach sie auf, um sich das Leben nehmen zu lassen. Hans von Möhlmann vom Verein Dignitas berichtet von ihrer letzten Fahrt.

Sie wusste genau, was sie nicht wollte. Ans Bett gefesselt sein, völlig angewiesen auf andere Menschen. Christine G. lebte in Essen, eine Frau, die schwer an Parkinson erkrankt war. Und wohl auch etwas einsam. Irgendwann im vergangenen Sommer hat sie sich entschieden, mit Hilfe der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas aus dem Leben zu gehen. Ihren letzten Gruß, ihre Todesanzeige, formulierte sie noch selbst: „Christine G., geboren 6. 9. 1960, gestorben 6. 9. 2012. Vielen Dank Dignitas.“

Auf den Spuren einer Frau, die des Lebens müde war. Wer war diese Christine G.? Was trieb sie zu diesem endgültigen Schritt, ihren 52. Geburtstag zu ihrem Todestag zu machen?

Einer der letzten Menschen, die Christine G. sahen, sie erlebten und mit ihr redeten, ist Hans von Möhlmann. Der 69-jährige ehemalige Sozialarbeiter lebt in Hannover, unterstützt seit Jahren die Arbeit der deutschen Dignitas und begleitet immer wieder Menschen auf ihrem letzten Weg in die Schweiz. Menschen sind das, die keine nahen Angehörigen haben oder diese nicht mit ihrem Tod belasten wollen. So wie auch Christine G.

Vier Besuche und ein Aufbruch

„Sie war eine tolle Frau, intelligent und sehr naturverbunden“, sagt von Möhlmann und: „Ihre Lebenssituation war für sie nicht mehr akzeptabel. Sie saß bereits im Rollstuhl, wurde täglich von einem Pflegedienst versorgt und wäre bald bettlägrig gewesen.“ Von Möhlmann lernte Christine G. im Spätsommer kennen, kurz zuvor hatte sie sich bei Dignitas gemeldet, wo sie seit Jahren Mitglied war. Viermal besuchte von Möhlmann sie in Essen, bevor er mit ihr Anfang September in die Schweiz reiste. Eine letzte Fahrt. Ein letzter Abend. Ein letztes Essen beim Italiener.

Christine G. stammt ursprünglich aus Frankreich und kam als Au-pair-Mädchen nach Deutschland. Eine junge Frau, die sich bald verliebt, heiratet und zwei Söhne bekommt. Lange lebt sie auf dem Land, bevor sie vor zwölf Jahren mit ihrer Familie nach Essen zieht. 2006 dann erhält sie die traurige Diagnose: Parkinson, auch Schüttellähmung genannt. Und die Krankheit schreitet schnell voran. Schneller als erwartet. Die Ehe scheitert. Der Kontakt zu den erwachsenen Söhnen bricht ab. „Ich habe sie nie nach den Gründen gefragt. Aber sie war von ihren Söhnen sehr enttäuscht“, sagt Hans von Möhlmann.

Das letzte Foto von Christine G. zeigt sie vor ihrem Haus in Essen mit ihrem Tibet-Terrier Lisa. Eine schmale, ja zierliche Frau mit praktischem Kurzhaarschnitt. Sie lächelt auf dem Bild, beobachtet ihren Hund. Das Tier hatte sie so abgerichtet, dass es ihr beim Ausziehen der Strümpfe helfen konnte und für sie Dinge vom Boden aufhob. „Das Foto ist bei meinem letzten Besuch in Essen entstanden“, erinnert sich von Möhlmann. Und daran, wie entschlossen Christine G. auf ihn gewirkt hat: „Die Perspektive, nur noch flachzuliegen, erschien ihr hoffnungslos.“

Am Morgen des 5. September also holt der ehemalige Sozialarbeiter Christine G. in Essen ab. Sie hat noch einige wenige Briefe an Freunde, Bekannte geschrieben, gibt von Möhlmann den Text für die Todesanzeige, die er später aufgeben wird. Auch eine Patientenverfügung hat Christine G. gemacht, so wie sie alle Voraussetzungen für ihren Tod in der Schweiz erfüllte. Längst waren ihre Krankenunterlagen und ein persönlich gehaltener Lebenslauf zu Ärzten dort verschickt. Ein letzter Blick, dann fahren sie los Richtung Schweiz.

Über den Zürichsee zum Abschied

Tage, wie der ehemalige Sozialarbeiter schon so einige erlebte. Erneute Besuche bei Schweizer Ärzten. Die Ankunft in jenem Hotel in Winterthur, das von Möhlmann auswählt, weil es behindertengerecht ist. Gern fährt er mit den Menschen, die er begleitet, noch einmal mit der Fähre über den Zürichsee. Das sei ein schöner Abschied von dieser Welt.

Für Christine G. jedoch wird die Zeit dafür nicht reichen. Denn am nächsten Tag ist ihr Geburtstag, der, so wünscht sie es, ihr Todestag sein soll. So bleibt es bei einem Abendessen. „Ein schöner Abend beim Italiener war das. Es gab Sekt. Und Christine G. war nicht belastet, nicht traurig. Sie freute sich auf den nächsten Tag“, erzählt ihr Begleiter. Er habe sie an diesem Abend natürlich gefüttert, sie später gewaschen und zu Bett gebracht. Eine schwer kranke, eine behinderte Frau, eine, die sich nach Tod sehnte.

Am nächsten Morgen bringt von Möhlmann Christine G. in das sogenannte „Blaue Haus“, das Sterbehaus der Schweizer Organisation Dignitas. Noch einmal gibt es Formalitäten zu erledigen, eine Videokamera wird eingeschaltet, die den freien Willen der Sterbenden dokumentieren soll. Von Möhlmann hilft Christine G. in einen Sessel, stützt ihren Rücken mit Kissen ab. Eine letzte Umarmung, ein sich Verabschieden. Dann, so sagt von Möhlmann, ziehe er sich immer zurück, halte nur noch Blickkontakt, während die Sterbebegleiter der Schweizer Dignitas den Becher mit dem todbringenden Beruhigungsmittel Natriumpentobarbital reichen.

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„Auch Christine G. schlief ohne Schmerzen ein“, sagt von Möhlmann. Er, der als Heimkind selbst schwere Zeiten durchlitten hat, trete seit Langem für ein selbstbestimmtes Ende des Lebens ein. Für ihn fühle es sich gut an, Menschen zu helfen, ihren Wunsch erfüllen zu können. Ein Dutzend Mal hat er das schon getan.

So wie bei Christine G. Auch deren letzten Auftrag erfüllt von Möhlmann. Am 18. September erscheint Christine G.’s Todesanzeige in Essen, mit einem Spruch von Mahatma Gandhi: „Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen.“