Essen/Dortmund/Duisburg. . Das jüngst im VRR gestartete Sozialticket könnten theoretisch über 1,1 Millionen Menschen nutzen - doch die Nachfrage kurz nach dem Start ist gering - weil es zu teuer ist, wie Kritiker glauben. Sie kämpfen weiterhin für ein billigeres Sozialticket. Diesen Samstag ist eine Sternfahrt nach Duisburg geplant.
Gemessen an der Zahl der Berechtigten, ist das Sozialticket im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) zwei Tage nach dem Verkaufsstart noch ein Flop. Für 29,90 Euro können Erwerbslose und andere Berechtigte seit dem 1. November eine Monatskarte für Bus und Bahn im jeweiligen Stadtgebiet nutzen - insgesamt, laut Statistik mehr als 1,13 Millionen Menschen. Nach zähem Ringen hatte der VRR das Sozialticket am 1. Oktober beschlossen.
Allerdings hat nicht jede Kommune das Ticket eingeführt: Dortmund hat ein eigenes – teureres - Sozialticket. In Hagen, Krefeld, Remscheid und Wuppertal haben die Stadträte das Projekt mit Blick auf die Haushaltslage abgelehnt; im Kreis Mettmann sind nur Monheim und Hilden im Projekt. Die Kreise Wesel und Kleve werden das Ticket ab Dezember anbieten, wenn der VRR sein Tarifgebiet auf den Niederrhein ausweitet.
Die Nachfrage nach Sozialtickets ist in der ersten Start-Woche jedoch noch schlapp. Seit Mitte Oktober können Anträge auf eine Berechtigungskarte gestellt werden. In Essen zählte man beim Verkehrsunternehmen Evag am Mittwoch jedoch nur 838 ausgestellte Sozialtickets. 758 Nutzer wechselten dabei von einer herkömmlichen Monatskarte auf den neuen Sozialtarif, erklärt Sprecher Nils Hoffmann. Zudem stellt er fest, „dass wir 80 Neukunden gewonnen haben“.
In Oberhausen hat man beim Verkehrsunternehmen Stoag bis dato knapp 800 ausgestellte Fahrkarten registriert. Und im Kreis Recklinghausen berichtet ein Sprecher des Verkehrsunternehmens Vestische, bisher seien 650 Sozialtickets ausgestellt worden. Bei der Vestischen spricht man von einem „verhaltenen Beginn“.
Antrag stellen und Kartenkauf in einem ‘Abwasch’
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Der Weg zum Ticket ist unterschiedlich: Im Kreis Recklinghausen, der als „Optionskommune“ Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen eigenverantwortlich übernimmt, können Anträge und Fahrkarte direkt in den Ticketcentern der Vestischen bestellt werden. Kunden sparen also einen Weg. In Castrop-Rauxel ist extra ein Info-Bus vor Ort, „weil wir dort kein ortsnahes Ticketcenter haben“, sagt Sprecher Norbert Könegen. Und in Haltern können sich Kunden an die örtlichen Partnerunternehmen der Vestischen wenden. Alle Mitarbeiter, versichert Könegen, „sind in Sachen Datenschutz geschult“. Kunden sparen sich also einen Weg. In anderen Kommunen müssen sich Antragsteller erst ans Amt, dann ans Verkehrsunternehmen wenden.
Unterschiede gibt es auch bei der Karte selbst: Während die Evag etwa Tickets auch im Jahresabo anbietet, gibt es beispielsweise bei der Bogestra nur eine Trägerkarte aus Pappe mit monatlich zu ziehenden Wertmarken ohne Abo. Eine Jobcenter-Sprecherin in Gelsenkirchen begründet, dass sich „Kunden gegebenenfalls innerhalb des Projektzeitraums individuell mehrmals eine Berechtigungskarte beschaffen“ müssen – je nachdem, wann ihnen die Behörde Leistungen zuspricht oder nicht.
Es deutet sich an, dass die Ticket-Nachfrage in den nächsten Tagen zumindest vierstellig werden dürfte: Laut Auskunft der Jobagentur Essen wurden dort bis dato 4555 Berechtigungsscheine ausgestellt. In Gelsenkirchen waren es zuletzt 2000 Anträge. Tatsächlich berechtigt wären NRW-weit jedoch mehrere Hunderttausend Menschen: Alleine in Essen sind es etwa 115.000 sozial Schwache, im Kreis Recklinghausen etwa 100.000.
Dass sie alle bald ein Sozialticket in der Tasche haben werden, erwartet man in aber selbst in den Sozialbehörden nicht: „Wir gehen davon aus, dass sich etwa 12.000 bis 15.000 dafür interessieren werden“, sagt die Sprecherin der Arbeitsagentur Essen. In Gelsenkirchen geht man von höchstens 6000 Tickets aus. Das wären etwa 20 Prozent der Arbeitslosengeld II-Empfänger in der Stadt. Pessimistischer ist dabei Heiko Holtgrave, Vorstand im Dortmunder Verein Akoplan, eine von gut einem Dutzend Initiativen in NRW, die für ein billigeres Sozialticket kämpfen: „Das Ticket wird höchstens zehn Prozent der Berechtigten erreichen“, glaubt Holtgrave: „weil es für die Meisten noch zu teuer ist“.
Initiative plant für Samstag eine Sternfahrt für ein „besseres Sozialticket“
Beispiel für Holtgraves Einschätzung ist das Dortmunder Sozialticket, dass der Rat im Februar 2008 - bundesweit als vorbildlich gelobt - gestartet hatte: Als der Preis des Monatstickets 2010 aus Haushaltsgründen von anfangs 15 Euro auf 31,56 Euro heraufgesetzt wurde, sei die Kundenzahl in Dortmund von 24.100 drastisch geschrumpft. Aktuell gebe es nur noch rund 7500 Kartenabonnenten, sagt Holtgrave.
Zudem ist die Debatte um das Sozialticket noch nicht beendet. Das Pilotprojekt läuft bis Ende 2012, parallel dazu sollen die Verkehrsunternehmen in den kommenden Monaten ermitteln, ob und wie das Ticket genutzt wird. Kommende Woche Dienstag steht auf Antrag der Linksfraktion das Ticket im Sozialausschuss im NRW-Landtag erneut auf der Tagesordnung.
Klar ist bislang: Für die Verkehrsunternehmen wird das Sozialticket ein Zuschussgeschäft. Der VRR beziffert die Verluste auf bis zu 11,5 Millionen Euro pro Jahr; 7,5 Millionen Euro davor trägt das Land NRW. Alleine die Essener Evag kalkuliert bis zu 950.000 Euro weniger Einnahmen, wenn Kunden von einem herkömmlichen Ticket 1000 auf ein Sozialticket umsteigen.
Unterdessen will das „Bündnis der Sozialticket-Initiativen im VRR“ an diesem Samstag, 5. November, mit einer Sternfahrt von Dortmund, Bochum, Essen, Wesel und Düsseldorf nach Duisburg für ein bezahlbares Sozialticket werben. Für 14 Uhr ist am Duisburger Hauptbahnhof eine Kundgebung geplant. An dem Tag soll auch eine VRR-weite Kampagne für gänzliche freie Fahrten starten: Aufgerufen sind alle Monatskarteninhaber, die Abends oder an Wochenenden und Feiertagen auf ihrem Monatsticket andere Personen im Zug kostenlos mitnehmen dürfen. Das Bündnis will dazu rote Buttons verteilen, mit denen ÖPNV-Nutzer signalisieren können „Ich nehme jemanden mit“.