Selm. . Jugendliche lieben sie, Jugendschützer und Eltern bereiten sie große Sorgen: Jedes Wochenende betrinken sich junge Leute in NRW auf Flatrate-Partys bis zur Besinnungslosigkeit. Eine Reportage aus einer hemmungsfreien Zone.
Lukas, ein hagerer Azubi, 19, will heute richtig „tanken“. Er meint: volltanken. Das gehöre freitags dazu, gerade heute wäre das ja bescheuert nicht zu saufen, wo doch das Hochprozentige bis 3.30 Uhr nichts kostet. „Aber bis dahin“, sagt er und blickt auf seine Uhr, „bin ich eh voll.“ Seine Kumpels hocken an der Theke neben ihm. Sie nicken anerkennend.
Es ist halb elf. Das Magic 3, die einst größte Großraumdisco NRWs, lädt heute zur Flatrate-Party. Übersetzt heißt das: Einmal zahlen, die ganze Nacht trinken. Zur Not auch bis der Arzt kommt. Das umstrittene Geschäftsmodell, das in manchen Städten verboten wurde, ist kein Selmer Phänomen. Diese Reportage könnte überall spielen, auch jenseits des Münsterlandes.
Das „Vorglühen“ fällt aus
Lukas hat das 19,99 Euro-Ticket bereits gelöst. Für diese Welt, in die er jedes Wochenende eintaucht. Eine Welt ohne Sorgen, ohne Scham, ohne Hemmungen. Währenddessen frieren draußen noch René und Basti. Die Schlange ist heute lang, sehr lang für diese Uhrzeit. Das heimische Vortrinken, sie nennen es „Vorglühen“, fällt aus. Drinnen ist es ja umsonst. René und Basti sind Brüder, der eine 19, der andere 16. Basti, der Jüngere, steht unter der Aufsicht seines volljährigen Bruders. Fünf Stunden später wird er blau sein.
Trotzdem wird er heil nach Hause kommen. Das geht nicht allen so: 2009 kamen etwa allein in Duisburg nach Angaben der dortigen Jugendsuchtberatung 106 Jugendliche mit Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus. Landesweit waren es fast 1100 Mädchen und Jungen zwischen 10 und 15 Jahren. Bundesweit gelten etwa 100 000 Unter-25-Jährige als alkoholabhängig oder stark alkoholgefährdet.
An den fünf geöffneten Theken ist das Gedränge groß. Es bilden sich Dreierreihen. Hinter der Bar steigt der Stress, vor der Bar der Pegel. Alles muss rein. Hepp und weg, Ex und Hopp, neue Bestellung. Was für Jungs Bier und „Kurze“, sind für Mädels die Mix-Getränke. Wodka mit Red Bull, Bacardi mit Cola, Bier mit Limone – die Liste der teuflisch-süßen Verführungen ist beinahe endlos.
Ab ein Promille beginnt der Rausch
„Seid ihr schon voll?“, will DJ Dirk Neuenfels wissen. Die Masse bleibt still, schüttelt schockiert den Kopf. Jetzt schon? „Ich wäre auch enttäuscht von euch“, erwidert er und fragt: „Wollt ihr denn heute saufen?“ Die Masse tobt. Der Wettbewerb ist eröffnet.
Ab circa ein Promille Blutalkohol, das sind etwa fünf Gläser Bier, sprechen die Experten vom Beginn des Rauschstadiums. Es kommt zu Gleichgewichts- und Sprachstörungen. Um kurz nach Mitternacht hat Lukas dieses Stadium erreicht. Sein Blick ist leer, er redet wirr, sein Atem stinkt nach Bier.
Mittlerweile ist die Tanzfläche gut gefüllt. Strahlemann DJ Dirk wiederholt: „Wer ist schon besoffen?“ Erste Hände schnellen stolz in die Luft, die Jugend kreischt. „Und wer von euch ist Single?“ – zustimmender Jubel. „Und wer von euch will heute noch ficken?“ Die Tabu-Grenzen fallen um genau halb Eins.
Um 3:30 Uhr fährt der Krankenwagen zum ersten Mal vor
600 Gäste zählt das Magic 3 in dieser Nacht. Noch nie waren so viele hier, verkündet der Disc-Jockey. Das Geschäft mit der Flatrate brummt. Ohne vermeintliche Verlierer. Der Laden ist voll, die Jugend auch – und das zum Taschengeldpreis. Geschäftsführer Peter Ziebell wird später sagen: „Flatrate-Partys machen ja alle. Und wenn ich es nicht mache, gehen sie woanders hin. Das Disco-Gewerbe ist ein reiner Überlebenskampf.“
Ab circa zwei Promille Blutalkohol beginnt laut Medizinern das Betäubungsstadium. Lukas, der einst so nette Azubi, ist betäubt. Um halb drei hat er nach eigenen Angaben 17 Schnäpse vertilgt. In der Lounge hängen sie mit roten Wangen in den Sesseln, knutschen wild, kämpfen gegen den Brechreiz.
Wieder erhebt DJ Dirk die Stimme. „Wer ist schon voll?“ Fast alle in der Halle reißen grölend die Arme hoch. „Und wer kann noch was vertragen?“ Ausnahmslos alle schmeißen die Arme in die Luft. Wie passt das zusammen? Gar nicht. Es sei denn, man folgt einer Devise: Voll, voller, am vollsten.
Es ist 3.30 Uhr, die Flatrate läuft aus. Viele liegen schon im Bett oder sind auf dem Heimweg, als der Krankenwagen zum ersten Mal vorfährt. Ob die Sanitäter denn öfters hier seien? „Das kommt schon vor“, sagt einer der beiden mit einem vielsagenden Grinsen, „aber heute ist es komplett ruhig gewesen.“