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Stephanie zu Guttenberg warnt vor dem Porno-Chic der Jugend-Idole. Aber pauschal von sexueller Verwahrlosung zu sprechen, wäre falsch, sagen Experten. Wie Kinder reagieren, hängt vor allem von den Eltern ab.

Karla M.* ist der Typ von Lehrerin, der weiß, was ihre Schüler bedrückt, wem es gut geht und wer es zuhause nicht ganz so leicht hat. Beliebt bei den Schülern, hat sie auch einen guten Einblick, was die so umtreibt. Pornos auf dem Handy? „Na, klar, haben die alle schon gesehen! Vor allem die Jungs”, sagt die Realschullehrerin aus dem Essener Norden. Und sie beklagt, dass viele ihrer Schüler kaum noch Distanz zur Sexualität haben, „kein Gefühl mehr für Sex als etwas Privates, Intimes”.

Von wegen Index!

Mit ihrer Kritik, Pornografie verderbe unsere Kinder, steht Stephanie zu Guttenberg, Minister-Gattin und Vorsitzende des Vereins „Innocence in Danger”, einem Verein gegen Kindesmissbrauch, also nicht alleine. Guttenberg kritisiert in ihrem gerade erschienenem Buch die Übersexualisierung unserer Gesellschaft, Pornos im Internet und Popsängerinnen in Dominakostümen. Doch wie mag das zu­sammenpassen mit der jüngsten Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die feststellte, dass Jugendliche heute viel später erste sexueller Erfahrungen machen als noch vor Jahren?

Die Guttenberg-Thesen sind weder neu noch falsch, meint Jörg Syllwasschy, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in Bochum. Aber pauschal von sexueller Verwahrlosung zu sprechen, wäre falsch. „Es gibt eher eine sexuelle Verwirrung.“ Und dieses Chaos, das immer verfügbare Pornos, übersexualisierte Medien und die stetig brausende allgemeine Informationsflut anrichten, will erst mal sortiert sein. „Dass mehr Jugendliche sich offenbar diese Zeit nehmen, ist ja zunächst ein gutes Zeichen“, sagt Syllwasschy.

Mädchen meist nicht auf Sex aus

Es stimmt ja: „Es gibt Zwölfjährige, die sich schminken und aufbrezeln wie 18-Jährige“, die Christina Aguilera oder Rihanna nacheifern, weiß der Sexualpädagoge. „Und das wird von den Jungs oft missverstanden.“ Dabei sind die Mädchen meist nicht auf Sex aus, sie wollen testen, wie sie ankommen. Und dann geraten sie unter Druck.

Und ein ganz ähnlicher, ungleich schärferer Erwartungsdruck wird von Pornos produziert. Frauen müssen sich willig unterwerfen, Männer immer können – das ist die Botschaft. Sexualität wird als Spektakel vermittelt. Eine der häufigsten Fragen, mit denen die Berater konfrontiert werden, ist die nach der Penis- oder Brustgröße. Reicht das, genüge ich den Ansprüchen, was ist normal? „Das Regelwerk hat sich aufgelöst.“

Fiktion prallt auf Wirklichkeit

Und dann prallt Fiktion auf die Wirklichkeit. „Es kommt immer darauf an, dass man die Bilder einordnet“, erklärt Syllwasschy. Dass man den Jugendlichen erklärt, dass Pornos nicht die Realität spiegeln. Pornos übrigens werden von Jungs aus allen gesellschaftlichen Schichten konsumiert. Den Unterschied in der Wirkung macht die Reaktion der Eltern und Lehrer.

Nur wo aufklärende Einordnung nicht stattfindet, kommt es zu Verwahrlosung im Sinne des Wortes.

Sexualtherapeut Jörg Syllwasschy von Pro Familia in Bochum. Foto: Karl Gatzmanga
Sexualtherapeut Jörg Syllwasschy von Pro Familia in Bochum. Foto: Karl Gatzmanga © WAZ FotoPool

Dieter Seifert muss das beobachten, seit er vor zehn Jahren die Supervision in der Münsteraner Kinderschutz-Ambulanz übernahm. Dort werden Kinder behandelt, die sexuell übergriffig sind. Der Professor für forensische Psychiatrie stellte fest: Viele von ihnen stammen aus Familien, in denen mit Sexualität „tabulos, undifferenziert umgegangen wird”. Seifert: „Das sind Familien aus verwahrlosten Milieus, wo die Großeltern bei Chips und Cola mit ihren neunjährigen Enkeln Pornos gucken. So etwas war mir neu.”

Nur selten hat Seifert Patienten aus geordneten Elternhäusern. Und auch Karla M., die Realschullehrerin bestätigt, dass die Distanzlosigkeit bei sexuellen Themen durchaus ein Unterschichten-Phänomen ist. Oft genug erlebe sie wie solche Mädchen offen mit Oralsex-Erfahrungen protzten, dies sogar beinahe öffentlich praktizierten, oder wie sie von Klassenkameraden deshalb gedemütigt würden. Nach dem Motto: „Ausgerechnet mit dem!”

Einer, der die Sorgen um eine sexuelle Verrohung von Jugendlichen eher beschwichtigt, ist der Kieler Sexualpädagoge Prof. Uwe Sielert. „Von Verrohung zu reden, ist eine hysterische Übertreibung”. sagt Sielert. Bereits im Alter von zwölf, dreizehn Jahren sei das sexuelle Skript Jugendlicher schon ausgebildet. Dass sie ein ausgeprägtes Interesse an sexuellen Details hätten, sei üblich, aber die vorgeprägten Einstellungen ermöglichten es ihnen, damit umzugehen. Sielert: „Jugendliche können gut unterscheiden, was ihnen guttut und was nicht. Wenn etwas bei ihnen Ekel oder Wut auslöst, verhalten sie sich widerständig dagegen.”

Prägung der Kindheit

Lediglich bei fünf bis sieben Prozent der Jugendlichen sei dieses sexuelle Skript nicht ausgebildet, das habe jedoch mehr mit Erfahrungen in den frühen Kinderjahren zu tun und damit, wie grundlegende Bedürfnisse von Erwachsenen begleitet worden seien. Der leichte Zugang zu Pornografie, so Sielert, sei nicht so gefährlich wie im allgemeinen befürchtet.

Sein Wissenschaftskollege Seifert fühlt sich da an den forensischen Psychiater Wilfried Rasch erinnert, der Ende der 60er Jahre warnte, die neue Freizügigkeit und der leichte Zugang zu Pornografie werde zu vermehrten Gruppenvergewaltigungen führen. Seifert: „Das hat sich bis heute nicht bestätigt.”