Witten. Nicht erst seit dem Trump-Attentat gilt: Gewalt im politischen Raum nimmt zu. Wer profitiert? Konfliktforscher Nils Bormann weiß es.
Wie groß ist die Gefahr für unsere Demokratie? Kann man aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Rückschlüsse auf die Gegenwart ziehen? „Wir hoffen zu sehen, wann Entwicklungen in Bereiche gehen, in denen wir uns wirklich Sorgen machen müssen“, sagt Prof. Nils Bormann (38). Der Konfliktforscher von der Universität Witten/Herdecke untersucht im Rahmen eines großen europäischen Forschungsprojekts unter anderem den möglichen Zusammenhang von ansteigender Gewalt in der Politik und dem Erfolg von populistischen Parteien. Frank Preuß hat mit ihm gesprochen.
Prof. Bormann, Sie analysieren die Zeit zwischen den beiden großen Kriegen mit Blick auf wachsende Konflikte und prüfen, was man auf die Gegenwart übertragen kann. Dazu zählt die Frage, welchen Einfluss Gewalt auf die Stärke antidemokratischer Parteien hat. Welchen hat sie?
Nils Bormann: Wir wissen, dass es in Italien Anfang der 1920er Jahre mehr Zuspruch für faschistische Parteien in Regionen gab, wenn es vor Wahlen zu Gewaltausbrüchen kam. Ähnliche Studien gibt es nun zu Deutschland: Rechtsextremistische Gewalt geht mit erhöhtem lokalen Zuspruch für die AfD einher.
Gewalt schreckt nicht ab, sondern bestärkt Menschen, rechtsextrem zu wählen? Aber die Stimmenverluste in Wahlumfragen nach entsprechenden Ereignissen sprechen doch eine andere Sprache.
Wir sehen in den Studien zwei Effekte. Bei Gewalt, die so großen überregionalen Widerhall findet wie die Ermordung Walter Lübckes oder auch etwas, wie die in Potsdam besprochenen Deportationsideen, gilt: Wenn es eine große Gegenöffentlichkeit gibt, die klar mobilisiert wird, dann gibt es den Effekt, dass Menschen in der Mitte von Sympathien abgebracht werden. Die meisten Gewaltereignisse aber sind viel kleiner. Und da ist es eindeutig so, dass der Zuspruch zur AfD steigt. Da gibt es dann auch Leute aus der Mitte, die sagen: Es herrscht Chaos, der Staat hat es nicht im Griff. Es muss sich jemand anders kümmern.
Also ist der oft zitierte Satz, dass die Gesellschaft Zeichen setzen muss, mehr als eine Phrase?
Ja, das ist mehr als eine Phrase. Wenn es zu breiter gesellschaftlicher Ablehnung kommt, auch durch die Kirche, oder wie zuletzt durch die großen Wirtschaftsvereinigungen, funktioniert das. Proteste helfen, die Normgrenzen gerade zu rücken, zu sagen, dass etwas nicht okay ist, und welche Partei dafür steht. Überzeugte Rechtsextremisten erreicht man damit aber nicht.
Politologen gehen davon aus, dass 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland für rechtsextremes Gedankengut latent empfänglich sind.
Sogar bis zu 30, je nachdem wie weit Sie den Begriff ausdehnen. Bis zu 30 Prozent haben jedenfalls eine latent fremdenfeindliche Haltung. Das ist nicht überraschend, wenn man in die Nachbarländer schaut. In der Schweiz bringt es die SVP mit teils krass fremdenfeindlichen Kampagnen seit 2000 regelmäßig auf mehr als 25 Prozent.
In diesen krisenhaften Zeiten wird als Warnung gerne der Vergleich zur Weimarer Republik bemüht. Bei allen Analogien, hinkt der nicht schon mit Blick auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch, den das Land damals erlebte?
Wir sehen Tendenzen, die wir in der Weimarer Republik gesehen haben, eine erhöhte Fragmentierung des Parteiensystems, eine deutlich klarere Polarisierung der Parteien, auch wenn die Gesellschaft nicht polarisierter ist. Wenn nichts Krasses passiert, glaube ich auch nicht daran, dass wir dieselbe Entwicklung sehen werden. Allerdings wächst der Nationalismus, international werden Handelsblockaden errichtet. Sollte zum Beispiel die Autoindustrie in Deutschland Schaden nehmen und die Arbeitslosigkeit deutlich zunehmen, dann will ich nicht ausschließen, dass etwas ins Wanken käme.
Einspruch – Sie sagen, die Gesellschaft sei nicht polarisierter. Verfestigt sich nicht eher ein Eindruck wachsender Unversöhnlichkeit? Heben nicht immer mehr Menschen nur noch Schützengräben aus, um auf den mit der Gegenposition zu feuern?
Es gab zuletzt ein Buch von soziologischen Kollegen, „Triggerpunkte“. Die haben untersucht, wie sich grundlegende Positionen zu Umverteilung, Ausländern, Umweltschutz seit den 90er Jahren verändert haben. Und sie haben festgestellt, es hat sich nicht so viel geändert, die Meinungen sind ähnlich geblieben. Wenn überhaupt hat es einen leichten Ruck zu linksliberalen Standpunkten gegeben. Was sich geändert hat: Es gibt einzelne Anlässe, die für die Menschen gar nicht so zentral sind, die plötzlich explodieren…
… wie die Genderdebatte…
Genau. Aber die meisten interessiert das gar nicht so sehr.
Also verstärkt hier das Getöse in den sogenannten sozialen Netzwerken den Eindruck von der Polarisierung?
Leute, die laut sind, werden wahrgenommen. Ein Student sagte mir einmal, die sozialen Netzwerke geben dem Stammtisch eine nationale Bühne.
Aber ist die gefühlte und in Zahlen zu sehende, zunehmende Aggression auch nur eine Zuspitzung oder fußt sie nicht doch auf einer Grundstimmung im Land?
Wir sind historisch immer noch auf einem niedrigen Gewaltniveau - wenn wir uns in die 70er, 80er-Jahre mit der RAF zurückversetzen oder Anfang der 90er an die massive Gewalt zwischen rechts- und linksradikalen Jugendgruppen im Osten erinnern. Attentate auf Schäuble und Lafontaine hat es gegeben. In der zweiten Hälfte der 90er und 2000er-Jahre ist das stark zurückgegangen. Was stimmt, ist, dass wir in den letzten zehn Jahren, dann vor allem mit der Flüchtlingskrise, einen deutlichen Gewaltanstieg gesehen haben. Es kommt also darauf an, welchen Zeitraum man betrachtet.
Der zweite Punkt: Mit den sozialen Medien und leicht verfügbaren Informationen, wo Politiker ihre Büros haben plus dem Erstarken der AfD hat sich etwas verändert. Im politischen Diskurs wird der Gegner als Feind gesehen. In Onlineräumen herrscht eine Sprache, die womöglich dazu verführt, dass man anfängt, gewalttätig zu werden. Im Vergleich zu früher gibt es jetzt auch eine etablierte Partei, die solche Rhetorik gegen den politischen Gegner duldet, wenn nicht sogar anheizt.
Würde ein Verbot der AfD helfen?
Wo es politische Anhängsel gibt, die gewalttätig sind, muss man ohne Toleranz verbieten. Das hat man auch in der Weimarer Republik getan, es gab zwischendurch ein Verbot der SA, und die Gewalt ging deutlich zurück. Auf parteipolitischer Ebene muss man sagen: Den ganzen Menschen, die da aktiv sind, kann man die Echokammer nicht nehmen. Es könnte eher Untergrundaktivitäten anheizen, zumal die AfD den sozialen Mediendiskurs so absolut gegenüber den anderen Parteien dominiert. Je mehr man die Skandale offenlegt, im politischen Diskurs zum Beispiel aufzeigt, welche schlimmen wirtschaftlichen Konsequenzen ein AfD-Programm hat, hat man da bessere Chancen.
Welche Warnhinweise nehmen wir nun aus der Zeit zwischen den Kriegen mit?
Der Staat muss noch stärker gegen politische Gewalt vorgehen. Er muss in Erfahrung bringen, wie aufgeheizte Onlinediskussionen und eine politische Rhetorik, die Gewalt duldet, dann dazu führt, dass es zu mehr Gewalt kommt. Wir brauchen deutlich mehr Informationen, damit diese Prozesse von sich steigernder Gewalt nicht außer Kontrolle geraten. Weil da ein deutliches Potenzial ist, das zur Unterstützung rechtsextremer Politiker führt.
Das Forschungsprojekt
Das Projekt des europäischer Forschungsrats, an dem Bormann teilnimmt, läuft seit 2021. Untersucht werden die politischen Entwicklungen zwischen den beiden Weltkriegen für 25 Demokratien. Eine Zeit, die sich durch den den Aufstieg antidemokratischer Parteien und den rapiden Anstieg von Gewalt auszeichnet. Bormann sucht nach Rückkoppelungseffekten, Zusammenhängen mit Blick auf die Gegenwart. Ist die Entwicklung dessen, was wir heute sehen, schon ein Anfang von etwas oder nicht?