Essen. Der Bundesfinanzminister will mit Essenern im Colosseum ins Gespräch kommen. Dann gibt es allerdings eine Unterbrechung.
Plötzlich wird es laut im Saal, und alle reden durcheinander. Christian Lindner, dem die Schreie gelten, bleibt ungerührt stehen, fast scheint es, als habe er schon damit gerechnet. Bürgerdialog mit dem Bundesfinanzminister im Essener Colosseum, 150 Menschen sind am Donnerstagnachmittag dabei, und nicht völlig überraschend auch ein paar Klimaaktivisten der „Letzten Generation“, die es irgendwie in die Ticketverlosung geschafft haben.
„Die FDP zerstört das Klima“, schreit einer, der aufspringt, „Sie verbrennen die Welt“, eine junge Frau - und das ist selbst für einen Mann wie Lindner, der gerne in größeren Kategorien denkt, ein bisschen zu viel der Ehre. Mit dem Satz „Verzicht ist keine Möglichkeit“ als Zusammenfassung seiner Thesen zum weltweiten Klimaschutz auf eine entsprechende Frage hin hat Lindner sich den Ärger freiwillig eingebrockt und den Startschuss fürs Getöse abgefeuert. Er steht mittendrin im Publikum, und es juckt ihn natürlich nicht, zumal er das Mikrofon in der Hand hält und das Intermezzo routiniert abmoderiert: „Mein dringender Rat an alle Aktivisten ist, zu akzeptieren, dass wir in einer Demokratie leben, wo Sie mit diesen Positionen keine Mehrheiten erreichen.“
Sicherheitsmänner schieben die Störer zum Ausgang
Der Applaus ist ihm sicher, die Unterstützung einiger Sicherheitsmänner gewiss, die das Quartett samt seiner Transparente Richtung Ausgang schieben. Eine Anzeige soll es dem Vernehmen nach nicht geben. Nein, auf Krawall ist man hier an diesem Nachmittag schon gar nicht aus, selbst Kritik an Christian Lindner und seiner Politik wird wenn überhaupt so liebevoll ummantelt, dass eine wohlige Wärme die kühlen Saaltemperaturen schnell mildert. „Wir wollen Ihren Puls fühlen“, sagt Lindner zu Beginn der anderthalbstündigen Fragerunde. Es bleibt bei 60 Schlägen pro Minute.
Fast schon liebevoll wird er gebeten, den Sinn der Schuldenbremse doch noch einmal zu erklären. Und weil Politiker doch vor allem in Wahlkämpfen Versuchungen erlägen, vermeintlich Populäres zu sagen, pumpt Lindner sogar die griechische Mythologie um einen Vergleich an: Odysseus habe sich an den Bootsmast gekettet, um dem verführerischen Gesang der Sirenen zu widerstehen. „Die Schuldenbremse“, philosophiert Lindner, „kettet uns an den Mast der Vernunft.“ Ob es denn eine Irrfahrt ist, ja, die Frage liegt in der Luft, allein, sie wird nicht gestellt.
Schlagfertig zieht Lindner viele Fragende fix auf seine Seite. Der Essener Unternehmerin, die wissen will, warum so wenige Menschen aus der Wirtschaft in die Politik gehen, bescheinigt er mit einem Lächeln: „Ich seh‘ da eine“, dem Wittener Abiturienten, der die Bildungsmisere beklagt, hält er entgegen, der junge Mann sei doch ein gutes Beispiel dafür, dass es so schlimm nicht sei. Und dem Onlinehändler, dessen Ärger mit der chinesischen Konkurrenz ins Kleinteilige zu entgleiten droht, ruft er zu, dass er ihm später doch mal seine Visitenkarte geben soll, einer seiner Experten im Ministerium werde sich um das Problem kümmern.
Es gab schon unangenehmere Nachmittage für Lindner
Lindners Bürgerrunde durch deutsche Städte bezahlt das Bundesfinanzministerium. Deshalb, sagt Lindner und schmunzelt, fällt das Wort FDP nicht so oft an diesem Nachmittag. Das respektiert augenscheinlich auch das Publikum. Der böse Begriff Fünf-Prozent-Hürde ist nur einmal ganz kurz zu hören, und verhallt gänzlich unkommentiert. Ein bisschen Schreierei zwischendurch? Geschenkt. Es gab schon unerfreulichere Nachmittage im Leben von Christian Lindner.