Witten/Herdecke. „Glück ist lebenswichtig“, sagt Forscher Tobias Esch. Doch in Zeiten von Krisen bleibt es oft auf der Strecke. Wie wir es im Alltag wiederfinden.

Krieg, Klima, Inflation: Viele Menschen an Rhein und Ruhr leiden unter den Dauerkrisen. Als wir unsere Leserinnen und Leser vor einiger Zeit gefragt haben, wie sich das Weltgeschehen gerade auf ihre Stimmung auswirkt, fühlten sich viele ängstlich, erschöpft, hoffnungslos. Das Glück im Alltag kommt derzeit bei vielen zu kurz. Doch wie können wir das Glücklichsein –trotz allem – wieder erlernen? Darüber hat Laura Lindemann mit Prof. Tobias Esch, Glücksforscher von der Universität Witten/Herdecke gesprochen.

Herr Esch, warum bleibt das Glück derzeit bei vielen Menschen auf der Strecke?

Tobias Esch: Viele Menschen erleben für sich persönlich gerade eine Welt, die aus den Fugen gerät. Eine Welt, die sie nicht mehr steuern und auch nicht mehr verstehen können. Durch Krieg, Klima und Inflation fühlen sie sich hilflos und überfordert. Und damit bleibt das Glück leider häufig aus. Dabei ist es lebensnotwendig.

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Warum?

Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung und auch für unser persönliches Wachstum brauchen wir Hoffnung und Zuversicht. Derzeit sind viele Menschen nicht mehr im Wachstums-, sondern im ständigen Überlebensmodus. Der größte Killer vom Glück ist chronischer Stress. Dadurch steigt das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch Depressionen nehmen zu. Hinzu kommt, dass wir keine klugen Entscheidungen mehr treffen können. Denn wenn das Glück fehlt, das Gefühl einer inneren Belohnung und Richtschnur, können wir nicht bestimmen, was richtig und was falsch ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Dinge, die trotz allem gut sind, auch wahrnehmen. Dabei gibt es verschiedene Formen von Glück.

„Wenn das Glück fehlt, können wir nicht bestimmen, was richtig und was falsch ist“, sagt Glücksforscher Tobias Esch von der Universität Witten/Herdecke.
„Wenn das Glück fehlt, können wir nicht bestimmen, was richtig und was falsch ist“, sagt Glücksforscher Tobias Esch von der Universität Witten/Herdecke. © FUNKE Foto Services | Lukas Schulze

Auf welche Arten können wir Glück empfinden?

Man kann von drei Formen des Glücks sprechen. Einmal ist es die Vorfreude, die aufsteigt, wenn wir zum Beispiel auf etwas hinarbeiten. Diese Form taucht meist in der ersten Lebenshälfte auf. In der zweiten Lebenshälfte erleben viele Menschen Glück in Form von Momenten der Erleichterung, wenn sie etwas Unangenehmes überstanden haben – etwa einen Konflikt, einen Schicksalsschlag oder eine schwere Krankheit. Die dritte Form ist die innere Zufriedenheit, das kleine, leise Glück - die Glückseligkeit. Dadurch, dass unser System hierzulande jedoch auf Kante genäht ist, verschwindet dieses immer häufiger.

Inwiefern?

Etwa durch die Digitalisierung und jetzt auch die KI erleben wir Veränderungen, mit denen unser System kaum noch Schritt halten kann. Auch die Deutsche Bahn oder die Bildungslandschaft sind Beispiele, die zeigen, dass das System bei der kleinsten Störung zusammenbricht. Und dann kommt noch der persönliche Drang zur Selbstoptimierung hinzu. Da muss man sich nur einmal seine eigenen To-do-Listen und Mailpostfächer anschauen. Aus der Stressforschung wissen wir, dass das eine gefährliche Mischung ist.

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Wie können wir Glücklichsein wieder erlernen?

Wir können es trainieren. Denn Glück ist größtenteils ein innerer Prozess, eine Art innere Entscheidung. Eine der Grundvoraussetzung für Glück im Alltag ist, sich täglich zu bewegen. Das ist wichtig für unser Belohnungssystem. Hinzu kommt der Genuss, etwa durch gutes Essen. Das kann zum Beispiel das Lieblingsgericht sein oder ein Essen, das man schon immer mal probieren wollte. Oder Sie versuchen, den nächsten Bissen in der Mittagspause einmal ganz bewusst zu genießen.

Und dann braucht es Momente der inneren Einkehr. Es ist wichtig, mit sich selbst sein zu können, Gefühle wie Leere oder Schmerz auszuhalten und sich nicht direkt abzulenken. Üben lässt sich das durch Meditation, Musik oder bewusstes Atmen. Mein vierter Tipp: Überlegen Sie täglich, wofür Sie dankbar sind und schreiben Sie es auf. Fragen Sie sich: Wofür stehen Sie morgens auf? Und warum gerade hier? Diese Fragen behandle ich auch in meinem Buch, das gerade erschienen ist.

Bei vielen unserer Leserinnen und Leser sind das die kleinsten Kleinigkeiten, etwa ein heißer Kaffee am Morgen.

Das würde ich nicht als Kleinigkeit bezeichnen. Denn man muss sich doch die Frage stellen, wofür der Kaffee am Morgen, die Sonnenstrahlen in der Mittagspause oder der tägliche Spaziergang mit dem Hund stehen. All diese Momente stehen für das Hier und Jetzt. Es ist alles, was wir haben. Mein Appell: Grübeln Sie nicht zu viel über die Vergangenheit oder die Zukunft, denn so verpassen Sie den einen Moment, der gerade da ist.

In den vergangenen Wochen sind Tausende Menschen deutschlandweit gegen Rechtsextremismus und für eine offene Gesellschaft auf die Straßen gegangen. Kommt damit das Gefühl von Selbstwirksamkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt wieder zurück?

Ja, das scheint mir so. Beim Glück geht es nicht nur darum, es sich selbst nett zu machen. Es geht auch um eine kollektive Verbundenheit. Gemeinsam etwas zu bewegen, wie auf den Demonstrationen. Oder Zusammenhalt zu erleben, wie beim Fußball-Sommermärchen 2006. Diese Momente bringen uns als Gesellschaft wieder näher zusammen und helfen uns, wieder in die Selbstwirksamkeit zu kommen.

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