Essen. Laut TÜV sind 2023 so viele Menschen wie nie durch die Führerscheinprüfung gefallen. Steigt deshalb die Zahl der Täuschungsversuche?
42 Prozent der Fahrschüler und -innen haben nach Daten des TÜV im vergangenen Jahr die theoretische Führerscheinprüfung nicht bestanden. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Durchfallquote damit um drei Prozentpunkte gestiegen, im langfristigen Vergleich zum Jahr 2014 sogar um 10 Punkte. Nahezu zeitgleich hat die der entdeckten Täuschungsversuche bei theoretischen Führerscheinprüfungen ein Rekordniveau erreicht. Besteht da ein Zusammenhang?
Knopflochkameras und versteckte Mikrofone
Knopflochkameras, versteckte Mikrofone und nahezu unsichtbare Kopfhörer. Was früher zur Standardausrüstung von Agenten gehörte, kommt heute regelmäßig bei Führerschein-Prüfungen zum Einsatz. Versuchte Täuschung bei der theoretischen Führerschein-Prüfung? „Ja“, sagt Claas Alexander Stroh, Sprecher des TÜV Nord, der solche Prüfungen abnimmt, „das ist ein großes Thema.“ Und es wird offenbar immer größer. In der Region Rhein/Ruhr wurden im vergangenen Jahr insgesamt 295 Täuschungsversuche aufgedeckt. Im Jahr 2022 waren es „nur“ 138. „Damit hat sich die Zahl der aufgedeckten Fälle innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt.“
Auch bundesweit sieht es kaum besser aus. Mehr als 2700 Menschen haben allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 versucht, bei der theoretischen Führerscheinprüfung zu betrügen und sind dabei erwischt worden. Die Zahl sei so hoch wie noch nie und eine Steigerung von 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, bestätigt ein Sprecher des TÜV-Verbandes. Und sie ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. „Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus größer ist“, sagt der TÜV-Fachbereichsleiter Fahrzeug und Mobilität, Richard Goebelt. Damit könnten theoretisch Tausende Autofahrer auf den Straßen des Reviers unterwegs sein, ohne die nötigen Kenntnisse dafür zu besitzen.
Drei unterschiedliche Vorgehensweisen
Nach den Erfahrungen des TÜV gibt es drei unterschiedliche Vorgehensweisen. Ein Drittel der Erwischten hat bei der Theorieprüfung einen klassischen Spickzettel genutzt. Ein weiteres Drittel setzte auf Betrug via High-Tech. Das läuft dann beispielsweise so: Mit einer in Brille, Armbanduhr oder Kugelschreiber versteckten Minikamera filmt der Prüfling die Fragen ab und überträgt sie online an einen Helfer, der sich draußen in der Nähe postiert hat. Antworten gibt es über einen tief im Gehörgang versteckten Ohrhörer. Früher war die „Spionagetechnik“ teuer und schwierig zu bekommen. Heute werden die Sachen ganz legal für wenig Geld auf vielen Seiten im Internet angeboten. „Und die Technik wird immer kleiner und besser“, weiß Maurice Shahd vom TÜV-Verband. „Das ist alles kaum noch zu entdecken.“
Beim letzten Drittel der Betrugsversuche handelt es sich um sogenannte „Stellvertreterprüfungen“, bei denen sich jemand anders für den Prüfling ausgibt und die Fragen vor Ort beantwortet. Das kann manchmal schlicht ein Kumpel sein, ist oft aber auch das Mitglied einer straff durchorganisierten Bande, die damit reichlich Geld verdient. Nach Erkenntnissen der Polizei werden von den Profis bis zu 2500 Euro pro Prüfung verlangt und von den „Kunden“ auch gezahlt.
Fahrlehrer kommt immer öfter mit zur theoretischen Prüfung
Um Stellvertreterprüfungen zu verhindern, werden inzwischen auch die Fahrschulen tätig. „Mittlerweile begleitet der Fahrlehrer häufig den Bewerber zur Prüfung“, bestätigt Martin Fellmer, Vorsitzender des Fahrlehrerverbandes Westfalen. „Der weiß ja, wer in den Fahrstunden neben ihm gesessen hat.“ Die Gegenseite hat darauf schon reagiert. Weil man seine Prüfung nicht in dem Bezirk ablegen muss, in dem man ausgebildet wird, wechseln die Stellvertreter einfach den Prüfungsort und treten weit entfernt an - zu weit entfernt für den zuständigen Fahrlehrer, um sie zu begleiten. Nicht immer hat der Trick Erfolg. Man schaue schon genauer hin, wenn sich ein Bewerber aus Duisburg plötzlich im Hochsauerland zur theoretischen Prüfung melde, heißt es beim TÜV-Nord. „Aber immer mit der nötigen Sensibilität“, sagt Claas Alexander Stroh.
Kein Betrug im Sinne des Strafrechts
Trotzdem geht es nicht immer friedlich zu, wenn jemand erwischt wird. „Viele machen erst einmal auf doof“, weiß Maurice Shahd. Andere werden aggressiv. In 58 Fällen sind Prüfer oder Prüferinnen im vergangenen Jahr bedroht, in 20 Fällen sogar körperlich angegangen worden. Dabei haben sie für die Schummelei bei der Beantwortung der Fragen kaum etwas zu befürchten. „Im Sinne des Strafrechts ist das kein Betrug“, bestätigt Rechtsanwalt Arndt Kempgens aus Gelsenkirchen. Und alles, was die zuständige Fahrerlaubnisbehörde tun kann, ist, eine Sperrfrist von bis zu neun Monaten für den nächsten Prüfungsversuch zu verhängen. Auch eine Überprüfung der grundsätzlichen Fahreignung mithilfe einer MPU kommt bei Täuschungsversuchen in Betracht.
Etwas anders sieht die Sache bei der Masche mit dem Stellvertreter aus. „Dabei kann es sich um die Fälschung beweiserheblicher Daten oder den Missbrauch von Ausweispapieren handeln“, warnt Kempgens. Dafür drohen Freiheits- oder Geldstrafen.
Warum überhaupt immer mehr geschummelt wird, weiß niemand so genau. Ist die Prüfung so viel schwieriger als früher? Der Lehrstoff sei komplexer geworden, sagt Maurice Shahd. „Es gibt mittlerweile weit über 1000 Fragen“, bestätigt Martin Fellmer. Und weil man die Theorie-Prüfung am Tablet mache, gebe es viel mehr mögliche Fragenkombinationen als noch vor ein paar Jahren. Das alleine sei aber nicht das Problem, glaubt der Fahrlehrer. „Manche bereiten sich nicht mehr so intensiv vor wie früher.“ Nicht nur, weil sie wegen ihrer langen Schultage oder dem anschließenden Sport- oder Musikunterricht wenig Zeit haben. „Für viele junge Leute ist der Führerschein schlichtweg nicht mehr so wichtig“, weiß Fellmer. „Deshalb fehlt ihnen der Elan, dafür zu lernen.“