Essen. Wer nachts akut krank wird, findet in einer Notfallpraxis Hilfe. Nun drohen Lücken bei der Versorgung - wegen eines Zahnarztes.

Es ist mitten in der Nacht, und das Fieberthermometer zeigt 40 Grad an - wer kann da helfen? In NRW gibt es 91 Notfallpraxen. Sie haben nachts, am Wochenende, an Feiertagen und sogar Rosenmontag geöffnet. Ärztinnen und Ärzte im Bereitschaftsdienst helfen bei akuten, nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen - eine in weiten Teil geschätzte Versorgung. Aber die könnte deutlich schlechter werden.

Hintergrund ist ein Urteil des Bundessozialgerichts, auf das Verantwortliche in NRW mit Sorge blicken. Andere Bundesländer haben ihrer Notfallversorgung bereits eingeschränkt. Auch in NRW warnen Ärztevertreter: „Wenn wir keine Lösung finden, kann das zu einer starken Einschränkung der ambulanten Akutversorgung führen“, sagt Hans-Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe. „Im schlimmsten Fall heißt das, dass jemand bis zum nächsten Tag auf seine Behandlung warten muss.“

Bereitschaftsdienst: Ärztinnen und Ärzte lassen sich häufig vertreten

Für den Notfall sollte man zwei wichtige Telefonnummern kennen: Bei einem lebensbedrohlichen Notfall, sehr starken Schmerzen oder schweren Verletzungen ruft man den Rettungsdienst unter 112 an oder fährt in die Notambulanz einer Klinik. Bei leichteren akuten Erkrankungen, die aber nicht bis zur Sprechstunde des Hausarztes am nächsten Tag warten können, ist der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der 116117 oder eine der Notfallpraxen im Land die richtige Adresse.

Diese Praxen werden von den Kassenärztlichen Vereinigungen betrieben. Die Praxen haben keine eigenen Ärzte. Niedergelassene Haus- und Fachärzte sind vielmehr verpflichtet, dort Bereitschaftsdienste zu übernehmen. Je nach Größe einer Stadt oder eines Bezirks kann das zwischen fünf und 15 Mal im Jahr nötig sein.

Urteil des Bundessozialgerichts bedroht Notfallversorgung in NRW

Das Problem: Weil Ärzte fehlen, die diese Dienste übernehmen können und wollen, kommen auch sogenannte Ärzte-Pools zum Einsatz. Dazu gehören Ärztinnen und Ärzten, die anderswo angestellt oder freiberuflich tätig sind und in extremen Fällen ihr Einkommen sogar ausschließlich mit Bereitschaftsdiensten in den KV-Notdienstpraxen bestreiten. In Teilen von NRW wird jeder zweite Bereitschaftsdienst durch Vertretungen gestemmt. Haus- oder Fachärzte zahlen dafür mehrere Hundert Euro.

Diese Pool-Ärzte nun sind Gegenstand eines Urteils des Bundessozialgerichts. 2023 hatte das Gericht im konkreten Fall eines Zahnarztes ohne eigene Praxis geurteilt: Seine Notdiensttätigkeit in einer Bereitschaftspraxis in Baden-Württemberg ist sozialversicherungspflichtig (Az.: B 12 R 9/21 R). Das klingt zunächst kleinteilig - sollte das Urteil aber auf alle Pool-Ärzte übertragbar sein, drohen dem System hohe Mehrkosten, weil plötzlich für Pool-Ärzte Kranken-, Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge fällig wären.

Ärztevertreter: Es drohen Schließungen der Notdienstpraxen

In NRW warten Ärztevertreter noch auf das schriftliche Urteil. Schon jetzt ist klar: „Ohne Pool-Ärzte müsste der ärztliche Bereitschaftsdienst deutlich eingeschränkt werden“, sagt Kammerpräsident Gehle. Eine Folge könne sein: Die eh schon massiv belasteten Notaufnahmen in den Kliniken könnten noch stärker in Anspruch genommen werden. „Wir verstopfen die Ambulanzen und wer dann wirklich in die Klinik muss, fällt durchs Raster“, warnt Gehle. Deshalb brauche es eine Lösung für die ambulanten Bereitschaftsdienste.

Im Moment verballern wir Ressourcen. Wir brauchen die Möglichkeit, einem Patienten sagen zu können, dass sein Fall kein Notfall ist.
Hans-Albert Gehle - Präsident der Ärtekammer Westfalen-Lippe

Allein in Westfalen-Lippe gibt es rund 600 Pool-Ärzte. Sie übernehmen jeden dritten Bereitschaftsdienst. Sollte für diese Ärzte tatsächlich eine Sozialversicherungspflicht bestehen, wären die Belastungen finanziell und logistisch „nicht zu stemmen“, sagt Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der KV Westfalen-Lippe. Im Raum steht deshalb die Frage, die Pool-Ärzte aus der Versorgung zu nehmen, weil man Mehrkosten für niedergelassenen Ärzte und die KV und einen hohen bürokratischen Aufwand befürchtet. Spelmeyer sagte schon Ende 2023, dass sogar Schließungen der Notfallpraxen drohten.

Verantwortliche in NRW warnen vor Mehrkosten und Bürokratie durch Bereitschaftsdienste

Die KV Nordrhein betont, dass es dort keine „Pool-Ärzte“, wohl aber Vertretungsärzte gebe. Ihre Anzahl liege „im unteren vierstelligen Bereich“. Auch in Nordrhein befürchtet man „gravierende Auswirkungen für die etablierten Notdienststrukturen“, hohe Kosten und bürokratischen Aufwand für niedergelassene Ärzte, die sich beim Bereitschaftsdienst vertreten lassen. Gefordert wird, dass Vertretungsärzte von der Sozialversicherungspflicht freigestellt werden - wie die Ärzte im Rettungsdienst. Zudem müsse der Notdienst besser bezahlt werden.

Der Bund will die Notfallversorgung zunächst an anderer Stelle nachbessern. In dieser Woche hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Eckpunkte einer Reform vorgestellt, nach der unter anderem der Einsatz von Telemedizin und eine Vernetzung der Nummern des Rettungsdienstes (112) und des ärztlichen Bereitschaftsdienstes (116117) geplant ist.

Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, warnte schon Ende 2023, dass sogar Schließungen der Notfallpraxen drohten.
Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, warnte schon Ende 2023, dass sogar Schließungen der Notfallpraxen drohten. © Zentrale | KVWL

Ärztevertretern geht das nicht weit genug: „Vor allem brauchen wir eine Steuerung der Patienten“, sagt Kammerpräsident Gehle. „Im Moment verballern wir Ressourcen. Wir brauchen die Möglichkeit, einem Patienten sagen zu können, dass sein Fall kein Notfall ist, sondern unter Einnahme eines Medikaments auch morgen zu seinem Hausarzt gehen kann.“ Im Moment sei diese Art der Patientensteuerung an der 116117 nicht möglich.

Patienten missverstehen oft, was Notfallversorgung in den Bereitschaftspraxen bedeute. „Wir überbrücken dort die Zeit bis zur nächsten Sprechstunde des Haus- oder Facharztes“, sagt Gehle. Was Ärzte im Notdienst stattdessen erfahren: Dass jemand abends mit seit dem Morgen anhaltenden Kopfschmerzen in die Praxis kommt und auf Nachfrage erklärt, den ganzen Tag einfach keine Zeit gehabt zu haben, zum Hausarzt zu gehen.

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