Ruhrgebiet. Mehrere Frauen mit der Autoimmunkrankheit Myasthenie sind in Bochum erfolgreich behandelt worden. Ist das übertragbar auf Multiple Sklerose?
Mit konventioneller Behandlung ist es bei Fabienne S. nach all den Leidensjahren nicht mehr weitergegangen: „Ich bin durch sämtliche Therapien gerasselt“, sagt die 34-Jährige, erinnert sich an Phasen der Medikamentenallergie, der Lähmung, der Maskenbeatmung, des künstlichen Komas. „Auch Sterbensängste, natürlich.“ Zuletzt war die junge Mutter auf einen E-Rollstuhl angewiesen. Heute fährt sie wieder E-Bike.
Möglich macht das eine neue Immuntherapie gegen Myasthenie, eine dieser Krankheiten, die einen aus dem normalen Leben reißt. Myasthenie ist eine Autoimmunerkrankung, an der etwa 15.000 Menschen in Deutschland leiden: Krankmachende Antikörper stören die Informationsübertragung von Nerven auf Muskeln. Leichte Fälle sind gut zu behandeln, in schlimmen Fällen können Erkrankte kaum noch schlucken, lachen oder kauen. Solche Fälle können töten.
„Uns öffnen sich in der Forschung Türen, die bisher verschlossen waren“
Myasthenie im Anfangsstadium wird häufig mit Multipler Sklerose (MS) verwechselt. Und der hoffnungsfrohe Umkehrschluss lautet: Die Therapie möchte eines Tages auch auf MS anwendbar sein mit ihren vielen Erkrankten in sechsstelliger Zahl. „Uns öffnen sich in der Forschung Türen, die bisher verschlossen waren“, sagt Professor Ralf Gold, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie am St. Josef-Hospital Bochum.
Hier und an der Uniklinik Knappschaftskrankenhaus Bochum wurden bisher fünf Patienten und Patientinnen behandelt, zwei weitere in Magdeburg. Auch die Bochumer Patientin Nicole B. (46) war schwer erkrankt: Ein Video aus dem Frühjahr zeigt, wie sie mit größter Mühe ihr Krankenbett umrundet und jeden Moment hinzufallen droht. Nach erfolgreicher Therapie aber ist sie von Zuhause einfach losgelaufen. Ihre Söhne fuhren den Elektrorollstuhl hinter ihr her, weil niemand wusste, wie weit die Mutter kommt. Weit kommt sie.
Unternehmen in Kalifornien verändert die Zellen gentechnisch
Für die „individuelle Heilanwendung“ (das ist eine genehmigungspflichtige, versuchsweise Anwendung einer neuartigen Behandlung) entnehmen die Ärzte im Frühjahr Fabienne S., Nicole B. und den anderen Behandelten weiße Blutkörperchen. Ein Spezialtransport bringt jeweils 100 Millionen Zellen, eingefroren in flüssigem Stickstoff, zu dem Biotechnologie-Unternehmen Kyverna in Emeryville in Kalifornien. Kyverna wirbt so: „Wir entwickeln lebensverändernde Medikamente, um Patienten vor der dauernden Belastung durch Autoimmun-Erkrankungen zu befreien.“
Dort also verändern Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Zellen gentechnisch. Als sogenannte CAR-T-Zellen kommen sie nach Bochum zurück und werden per Infusion verabreicht. „Sie töten die B-Zellen, die die krank machenden Antikörper produzieren“, sagt Professor Roland Schroers, Chefarzt in der Hämatologie und Stammzellen-/Immuntherapie am Knappschaftskrankenhaus. Die Folge: Der Antikörperspiegel im Blut sinkt deutlich, die Muskelkraft verbessert sich schnell.
Zurück im Leben: „Auf ein Konzert gehen, ins Phantasialand fahren, zelten“
„Man kann normal wieder aktiv sein“, beschreibt Fabienne S. ihr heutiges Leben: „Auf ein Konzert gehen, ins Phantasialand fahren, zelten.“ Freilich hat die medizinische Fachangestellte noch nicht wieder zu arbeiten begonnen, ebenso wenig wie die Physiotherapeutin Nicole B. „Man traut dem Braten noch nicht so ganz.“ Denn da sind ja noch zwei offene Fragen.
Die erste ist, wie lange der Erfolg anhält. „Wir können nicht von einer Heilung sprechen, aber von einem nie dagewesenen Therapieerfolg“, sagt der Oberarzt Dr. Jeremias Motte. Dreieinhalb und fünf Monate sind die beiden Frauen jetzt jedenfalls anhaltend beschwerdefrei. Eine dritte steht vor der Entlassung aus dem Krankenhaus, und Patient vier, ein 73-Jähriger aus Remscheid, ist komplett zurück in seinem früheren Leben. „Wir können nur sagen: Die schädlichen Antikörper sind weg“, sagt Professor Ralf Gold. Und Professor Roland Schroers sagt: „Unsere Hoffnung ist, dass das viele Jahre und vielleicht Jahrzehnte anhält.“
Auch bei MS „sind es oft die B-Zellen, die desaströs wirken“
Die zweite Frage ist, inwieweit die Therapie tatsächlich übertragbar ist auf andere Krankheiten. Zunächst müssen weitere Studien die Ergebnisse des neuartigen Verfahrens erhärten. Blicke auf weitere Krankheiten wie Multiple Sklerose gebe es, so Gold: „Auch dort sind es oft die B-Zellen, die desaströs wirken.“ Und Schroers meint, es gebe „eine vielversprechende Perspektive für Betroffene mit verschiedenen rheumatischen Erkrankungen und anderen Autoimmunkrankheiten“. Der Rollstuhl von Fabienne S. steht jedenfalls im Keller.