Oberhausen. Krystyna Selyanskaya erklärt in einem Gastbeitrag, warum Windeln aus Oberhausen in Saporischschja Mut machen – und wie Jacken bei Alarm helfen.
Das ist Maria. Sie ist zwei Jahre alt und versteht vieles noch nicht, aber sie weiß schon sehr gut, was ein Keller ist und wie die Gefahr klingt, denn sie hat die Hälfte ihres Lebens an der Front in Saporischschja verbracht. Maria hat seit ihrer Geburt keinen Vater mehr, ihre Mutter ist alleinerziehend. Sie war gezwungen, ihren Mutterschaftsurlaub zu unterbrechen und wieder zu arbeiten, weil das Sozialgeld nicht reichte. Polizeibeamte erhalten durchschnittlich 500 Euro im Monat. Marias Mutter ist immerhin leitende Ermittlerin, ihr Beruf ist wichtig für das Land in Kriegszeiten. Darum bleibt sie oft lange auf der Arbeit und muss manchmal auch am Wochenende arbeiten. Dann ist das Mädchen bei ihrer Großmutter.
Und dies ist die dreijährige Anna, deren Vater ebenfalls Polizist ist, der Alleinverdiener in der Familie. Anna hat kein Zuhause mehr. Sie besucht mit ihrer Mutter regelmäßig ein Hilfszentrum. Das Mädchen fährt im Kinderwagen dorthin und kommt zu Fuß zurück, weil ihre Mutter im Buggy Hilfsgüter transportiert. In Saporischschja landeten sie praktisch bei Null, das Leben der Familie passte in drei Koffer, als sie ihre Wohnung in Melitopol wegen der russischen Besetzung der Stadt dringend verlassen mussten. Polizisten sind die ersten, die verhaftet werden, also musste die Familie sofort gehen.
Windeln sind kostbar in Kriegszeiten
Windeln können sich weder Marias Mutter noch Annas Eltern von ihrem Gehalt leisten. Denn in Kriegszeiten kostet eine Packung 20 Euro. Aber auf den Fotos sehen Sie Maria und Anna gleich mit mehreren Paketen „Premium Windeln“! Wo kommen Sie her?
Aus Oberhausen, der Partnerstadt von Saporischschja. Diese Freundschaft begann bereits im Jahr 1985 mit einem Jugendaustausch, aus dem später die „Multi“ wurde, eine der größten internationalen Begegnungen mit Jugendlichen aus 15 Ländern.
Damals leitete Taras Tschevtschenko die Jugendgruppe aus Saporischschja. Heute koordiniert er die Hilfstransporte von „Oberhausen hilft“. Und Wolfgang Heitzer, der damals die Städtepartnerschaft angestoßen und die Multi gegründet hat, ist Geschäftsführer des Vereins, der schon vor dem Krieg Waisenhäuser in Saporischschja saniert hat. Sie sehen die beiden in der Mitte und rechts im Bild. „Diese Woche haben wir unseren dreizehnten LKW mit Hilfsgütern geschickt“, sagt Heitzer. „Sie sagen uns, was sie brauchen. Manches können wir geben, manches nicht, aber wir tun unser Bestes.“
Winterjacken für den Luftschutzkeller
Zu Beginn des Krieges haben die Ukrainer kugelsichere Westen, Uniformen und Drohnen für das Militär angefragt, aber das kann und darf der gemeinnützige Verein nicht schicken. Winterjacken für Kinder, die allerdings schon. Mit diesen Jacken aus Oberhausen werden die Kinder nicht nur in den Kindergarten, in die Schule und auf den Spielplatz gehen. Wenn der Fliegeralarm ertönt, halten die Jacken sie in den feuchten Kellern warm.
Ganz links im Bild sehen Sie Viktor Nesterenko, er ist Vorsitzender einer Gewerkschaft für Behördenmitarbeiter und engagiert sich seit zehn Jahren für die Städtefreundschaft. Viktor erinnert sich, wie am dritten Tag des Krieges die russische Armee in der Nähe von Saporischschja stand und sogar Kinder Molotowcocktails mischten. Da entschloss sich Viktor, sein Netzwerk zu nutzen. Heute hilft er nicht nur Kindern wie Maria und Anna. Er organisiert vor Ort den Transport der Spenden aus Oberhausen mit Hilfe von ukrainischen Fahrern und sorgt dafür, dass sie direkt bei den Familien ankommt. Wenn er Geschenke und Windeln übergibt, seien die Menschen überrascht, von wie weit her diese Dinge kommen, sagt Viktor: „Und es rührt die Ukrainer zu Tränen. Sie haben nicht mit Hilfe gerechnet, aber sie ist gekommen.“
Drei Paletten mit Tierfutter
Viktor hat auch einige der 2400 Schuhkartons selbst ausgeliefert, die die Oberhausener mit Weihnachtspräsenten bestückt haben. „Aber als wir den Kindern Geschenke von anderen Kindern gebracht haben, das war einfach super. Die moralische Unterstützung, dieses Herzblut, ist auch sehr wichtig. Es zeigt uns, dass das Böse nicht gewonnen hat, dass der Kampf zwischen Gut und Böse weitergeht“, sagt Viktor. „Beim letzten Mal hat uns Oberhausen sogar drei Paletten mit Tierfutter geschickt.“ Er hat es nach Huljajpole und Orichiw geschickt, an die Front, wo fast alle Häuser zerstört, wo fast keine Menschen mehr wohnen, wo aber noch viele leben, erklärt Viktor, „die sich überhaupt nicht wehren können. Das sind Katzen und Hunde.“
„Die Russen dachten, die Ukraine würde im Winter einfrieren“, sagt Viktor. Und gerade gab es tatsächlich lange Stromausfälle in Saporischschja. Auch die Heizung wurde abgestellt. „Und Oberhausen war für die Menschen da. Erst letztes Mal haben wir mehr als zwanzig Dieselgeneratoren geliefert“, sagt Viktor. 130 Tonnen Hilfsgüter waren es im ersten Kriegsjahr. Dank der Wärme im Haus können Kinder wie die zweijährige Sofia auf dem Boden spielen, sagt Viktor und zeigt ein Foto. Er hat viele Fotos von Kindern in neuen Jacken.
>> Zur Autorin
Krystyna Selyanskaya studierte Journalismus und war beim Fernsehsender „Kiew Live“ Redaktionsleiterin des Morgenmagazins. Als ein russischer Pilot in den ersten Kriegstagen eine Rakete in den Hof des Hauses ihrer Familie schoss, beschloss die 34-Jährige, mit ihrer Tochter (11) und ihrer Schwester (18) zu fliehen. Ihr 19-jähriger Bruder fiel in Mariupol. Ein ukrainischer Freund, der seit Jahren in Essen lebt, bot ihr Hilfe an.
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