Bochum. Die Zahl der jugendlichen Raucher ist im Krisenjahr ‘22 gestiegen. Ärzte besorgt die Entwicklung. In Schulen bemühen sie sich um Suchtprävention.
Katharina Johannsen hat Fotos mitgebracht. Drastische Fotos. Eine Welle des Entsetzens geht durch die Reihen der 120 Neuntklässler, als sie am Montagmorgen Aufnahmen von Tumoren an Nase, Lippe, Gaumen, Mundhöhle und Kehlkopf in der Aula der Bochumer Goetheschule an die Wand wirft. Von Bild zu Bild werden die Neuntklässler stiller, viele wenden sich ab, Mädchen halten sich die Augen zu, ein Junge bekreuzigt sich. Katharina Johannsen hatte sie zuvor gewarnt, doch die junge Ärztin will, dass ihre Botschaft verstanden wird: „Alkohol und Nikotin schädigen die Gesundheit. Lasst die Finger davon!“
Seit 2017 schon sind die Spezialisten der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde im St. Elisabeth Hospital (Katholisches Klinikum Bochum) in Sachen „Suchtprävention“ an Bochumer Schulen unterwegs. Dr. Johannsen, Assistenzärztin im vierten Jahr, hat die Veranstaltung, bei der es um die legalen Drogen Alkohol und Nikotin geht, sehr gerne „geerbt“. Rauchen und Trinken seien noch tödlicher als etwa Heroin, wird sie den Gymnasiasten und Gymnasiastinnen später erklären.
Aktuelle Studie: Zahl der jugendlichen Raucher hat sich beinahe verdoppelt
Dabei schien die Gefahr doch erkannt -- und gebannt, insbesondere, was das Thema Nikotin angeht: Die Zahl der jugendlichen Raucher ist seit 20 Jahren rückläufig. Seit 2022 sind Tabak und E-Zigarette vor allem in der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen offenbar aber wieder angesagt: Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Tabakraucher in diesem Alter auf 15,9 Prozent (2021: 8,7 Prozent) und die der E-Zigaretten-Nutzer auf 2,5 (0,5) – Ergebnisse der im Dezember veröffentlichten Debra-Studie, für die Forscher der Uniklinik Düsseldorf seit 2016 jährlich um die 12.000 Menschen befragen.
Tatsächlich gibt es in der Goetheschule schon längst keine „Raucherecke“ mehr, und Dlgasch (16) und Mohamed, die die 9a besuchen, rauchen „natürlich nicht!“. Genauso wenig wie Shanouka und Jamie (alle 14) aus der 9n – oder deren Klassenkameraden. „Aber auf der Straße sehe ich wieder mehr Raucher in meinem Alter“, sagt Mohamed. Dlgasch hat Freunde, die „vapen“ – E-Zigarette rauchen. „In der Pubertät“, erklärt er, „will man Neues und Grenzen ausprobieren…“ „...oder sich den Älteren anpassen“, ergänzt Mohamed. „Niemand mag Außenseiter sein“, glaubt Jamie. Und Shanouka denkt, dass viele nur rauchen, weil sie sich auf Partys dann „cooler“ fühlen würden. Die vier Goethe-Schüler fühlen sich auch ohne lässig genug, sagen sie. Die eigenen Eltern sind ihnen dabei gute Vorbilder -- das ist Studien zufolge entscheidend: Nur der Vater von Jamie raucht. „Aber er versucht, es sich abzugewöhnen“, sagt die 14-Jährige.
Acht Millionen Tote durch Nikotin weltweit
Dass 2019 fast acht Millionen Menschen weltweit an den Folgen von Rauchen starben, dass Rauchen damit nach Bluthochdruck die zweithäufigste Todesursache war, wie Katharina Johannsen ausführt, erstaunt viele in der Aula (Alkohol belegte den 7. Platz, Heroin den 22.). Dass sich in Zigaretten 250 Giftstoffe finden, verwundert sie noch mehr: Naphthalin etwa steckt drin, ein Wirkstoff, den man auch in Mottenkugeln findet, und Polonium, radioaktiver Abfall. „Voll ekelig“, hört man aus den Reihen.
Die junge Ärztin listet zudem die möglichen ernsten gesundheitlichen Folgeschäden (nicht nur für Lunge und Leber) auf -- und alle lachen, als sie hinzufügt: „Rauchen macht nicht einmal hübsch, sondern Falten; und Alkohol dick.“ Sie erklärt, warum Wasserpfeife, Shisha oder E-Zigaretten nicht weniger schädlich sind und Jugendliche besonders gefährdet („Euer Gehirn wächst noch“). Sie schildert die Folgen des Rauchens für die Umwelt („80 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß jährlich“) und nennt andere gewichtige Gründe, die dagegen sprechen („Wenn Ihr täglich zehn Zigaretten raucht, kostet euch das 1400 Euro jährlich. Dafür kriegt ihr ein I-Phone 14 pro!“). Sie verrät, dass sich jeder zehnte in der Aula -- statistisch gesehen -- schon einmal in den Rausch getrunken habe – und dass gleichzeitiges Trinken und Rauchen das Risiko nicht verdoppele, sondern vervielfache. Mit den Folgen habe sie es tagtäglich in Ambulanz und OP-Saal zu tun.
„Rauchen und Trinken hat auch mit Traurigkeit zu tun“
Dlgaschs Vater ist Krankenpfleger – „und oft bei solchen OPs dabei“. Er erzähle viel davon, auch deshalb falle es ihm leicht, sich nicht „verführen“ zu lassen, sagt der 16-Jährige: „Wenn mir einer sagt, ist uncool, nicht zu rauchen, nicht zu trinken – geht das ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus“. „Trinken und Rauchen hat auch mit einer Art Traurigkeit zu tun“, findet Mohamed. Ein warnendes Beispiel ist den beiden Teenagern zudem ein Vereinskumpel beim Kickboxen. „Der war mal viel besser als ich“, erzählt Dlgasch. Dann habe er angefangen zu rauchen. „Seither haben seine Ausdauer und Beweglichkeit spürbar nachgelassen.“ „Er müsste sich Hilfe suchen“, denkt Mohamed. „Er sagt, das Rauchen entspannt ihn. Aber er tut es so oft.“
Die Ursachen des neuen Anstiegs der jugendlichen Raucherzahlen sind tatsächlich noch nicht untersucht. Dass Corona und der Krieg in der Ukraine verantwortlich sind, wie vermutet wird, findet Prof. Stefan Dazart, Chefarzt der HNO, aber „einleuchtend“. Auch er hat an diesem Morgen, nach einer frühen OP in der Klinik, den Weg in die Schule gefunden. Denn die Debra-Studie habe ihn „überrascht und erschreckt“: „20 Jahre lang lief alles in die richtige Richtung. Und nun haben sich die Zahlen fast verdoppelt!“ Das bedeute“ mittel- bis langfristig eben auch eine Verdopplung der Patientenzahlen“, was ihn sehr sorge. „Das ist doch die junge Generation, die auf die unsere Gesellschaft baut.“
Kinderklinik bestätigt den Trend: Mehr stationäre Aufnahmen
Zumal aktuelle Zahlen aus der Kinderklinik des Katholischen Klinikums Bochum den Trend bestätigen: 2022 wurden dort 85 Jugendliche wegen Drogen-, Alkohol- oder Nikotinmissbrauchs stationär aufgenommen – zehn Prozent mehr als im Vorjahr ( 77), so ein Sprecher. 80 Prozent der jährlich an die 300 Krebspatienten des Elisabeth-Hospitals kommen mit Alkohol- und Nikotin-bedingten Tumorerkrankungen – und ihre Prognose ist nicht gut, sagt Katharina Johannsen: „Fünf Jahre nach der Diagnose leben nicht mehr viele“.
Das – und ihre Bilder – wirken: Jamie wird am Abend ein langes, intensives Gespräch mit ihrem Vater führen, dem Noch-Raucher.