Edineț. Edineț im Norden Moldaus ist so nahe an der ukrainischen Grenze, dass die Bomben bis hierher zu hören sind. Trotzdem finden Kinder hier Zuflucht.

Das alte Vereinsheim am Fußballstadion von Edineț ist schon mehr als 20 Jahre ein „Ort, an dem es allen Kindern gut geht“. So steht es an der Wand des Spielhauses, in drei Sprachen: Rumänisch, das seit 1989 wieder Staatssprache ist, da gehörte die Republik Moldau noch zur UdSSR. Russisch, das immer noch 40 Prozent der Menschen hier sprechen. Und Ukrainisch, die Sprache der Nachbarn, die neuerdings in Edineț Zuflucht suchen. Es ist ein hoher Anspruch, den der Kindernothilfe-Partner Demos hier hat, „alle Kinder“ sind sehr viele im Norden des oft so genannten europäischen Armenhauses. Ein Viertel der Jugendlichen ist hier arbeitslos, ein Drittel hat weder Schul- noch Ausbildung – und nun kommen die ukrainischen Flüchtlinge hinzu. Tausende. Täglich.

Eigentlich will Demos-Direktorin Liliana Samcov erzählen, was bisher geschah in ihrer Hilfsorganisation, sie zeigt Fotos von Festivals, Sportwettkämpfen, Kinderfesten. Alles fing an, als ihre Tochter zwölf war und eine Frage hatte: Warum, wollte das Kind wissen, kümmert sich in der Stadt niemand um uns? Sie haben die jungen Menschen nicht gezählt, denen sie seither den Weg wiesen in ein „normales“, selbstbestimmtes und -bewusstes Leben. Einen Weg heraus aus der Armut und in eine Zukunft, in der Bildung und ein Job wichtig sind, nicht eine Hütte auf dem Dorf mit etwas Gemüse vor der Tür „und einer Flasche Wodka im Schrank“. 10.000 vielleicht? Liliana schaut erstaunt auf die vergilbten Bilder, „es waren andere Realitäten“.

Die Waschmaschine im Zentrum von „Demos“ läuft ohne Unterlass. Die Einrichtung hat vor allem Kinder aufgenommen.
Die Waschmaschine im Zentrum von „Demos“ läuft ohne Unterlass. Die Einrichtung hat vor allem Kinder aufgenommen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Freiwillige holten ukrainische Flüchtlinge an der Grenze ab

Die Realität seit Ende Februar ist, dass so viele in das Demos-Haus kamen, dass sie sie nicht mehr zählen können. Die ersten Bomben im Nachbarland waren gerade erst gefallen, da riefen sie in Edineț, kaum 30 Kilometer von der ukrainischen Grenze, ihre Leute zusammen. „Wir könnten auch Flüchtlinge aufnehmen“, das war der Entschluss, und was danach kam, musste genau so schnell gehen. Wie viel Platz können wir machen? Aus zwei Betten drei oder vier, die Bürger brachten Essen, Zelte, Kissen, jeder mit Führerschein war unterwegs. Brachte die gelben Flugblätter hin mit einer Telefonnummer darauf nebst einem Foto von Bett, Teppich, Gardine – und immer neue Menschen mit zurück.

Direktorin des Kindernothilfe-Partners Demos: Liliana Samcov.
Direktorin des Kindernothilfe-Partners Demos: Liliana Samcov. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Wer die ersten waren in seinem Auto, Nicolae Samcov weiß es nicht mehr, „es waren so viele“. Sie hatten alte Paare und junge Familien, „alle nervlich am Ende“. Manche zogen bald weiter, sie druckten ihnen Straßenkarten aus und eine Liste mit Lagern, andere blieben, weil sie nicht wussten wohin sonst. Oder sie kehren aus Notunterkünften zurück, jetzt, wo es kalt wird: Es gibt nicht überall eine Heizung. Schon deshalb kommt auch Daria, 18, gern her, die Medizinstudentin aus Kiew: „Hier gibt es sogar Essen!“

Anfangs liefen die Waschmaschinen im Demos-Haus Tag und Nacht, es war „Stress, Stress, Stress“, und eigentlich gab es auch kein Geld für all die neuen Aufgaben, aber danach fragte niemand. Freizeit, Urlaub? Die Flüchtlinge kamen meistens nachts, die Freiwilligen nahmen auf, versorgten, hörten allen zu mit ihren Sorgen. „Wir versuchen seit dem 24. Februar zu helfen“, sagt Viorica Orac, die bei Demos als Psychologin arbeitet. „Wir waren alle Mamas und Papas. Und Krankenschwestern.“

Pfingstgemeinde nahm 17 Roma-Familien aus der Ukraine auf

In der Kirche der Pfingstgemeinde um die Ecke, die eigentlich nur ein Wohnhaus ist in der Straße des 31. August, sind vor allem Roma-Familien zusammengerückt – auch Pastor Mihail und seine Kinder räumten ihre Zimmer und zogen aufs Matratzenlager ins Büro. Für die Schule, die sie hier anboten, war für ein paar Monate kein Platz mehr, aber es ist auch keine richtige Schule: „Bildungsangebot“, nennt sie der Pfarrer, er kämpfe gegen die „Nicht-Bildung“. Hier lernen auch Erwachsene Lesen, Schreiben und sowieso fürs Leben, immer dienstags bis samstags, täglich mit einem Bibeltext. Auf der schlichten Kanzel im Gemeindesaal liegt der Epheser-Brief aufgeschlagen, Kapitel 6, Vers 16: „Greife zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen.“

Ein winziges Zimmer im Haus der Kirche: Dascha (8), ihr Bruder Bohdan (9) kamen mit Mutter Maria fast 1000 Kilometer weit aus Charkiw nach Edineț.
Ein winziges Zimmer im Haus der Kirche: Dascha (8), ihr Bruder Bohdan (9) kamen mit Mutter Maria fast 1000 Kilometer weit aus Charkiw nach Edineț. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Gegen die Bomben aus Russland hat das Beten bislang nicht geholfen

Gegen die Bomben aus Russland hat das Beten bislang nicht geholfen; in diesen Tagen fällt in Edineț häufig der Strom aus, man spürt den Krieg und sein Beben bis hierher, und auch die Angst. Maria hat sie aus Charkiw hergetrieben mit Bohdan, 9, und Dascha, 8. Drei Roma aus der Ukraine, die einen Weg von fast 1000 Kilometern hinter sich gebracht haben, die moldawische ist die erste Grenze in Richtung Sicherheit und mehr als 1000 Kilometer lang.

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Sie wohnen immer noch in der Kirche, im ersten Stock haben sie ein winziges Zimmer: ein Bett, eine wackelige Kommode, drei Spielzeugautos, ein Wasserkanister. Im Dreibett-Zimmer nebenan hängen Söckchen auf der Leine, sonst ist da nichts. In der Schule sind Bohdan und Dascha die einzigen Kinder, die nicht feingemacht, sondern im Jogginganzug sitzen in der letzten Bank. Aber sie können in die Schule, im Flüchtlingslager, wo sie vorher waren, sagt Maria, die 29-Jährige, sei jedenfalls „alles schlimmer“ gewesen. Hier aber sei sie „mit offenen Armen“ aufgenommen worden. Das Gemeindezentrum heißt „Licht der Welt“.

Zog selbst mit seiner Matratze ins Gemeindebüro: Pastor Mihail von der Pfingstgemeinde in Edineț.
Zog selbst mit seiner Matratze ins Gemeindebüro: Pastor Mihail von der Pfingstgemeinde in Edineț. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Man spürt den Krieg bis nach Moldau

Nun, im Dezember, können sie alle wieder zum Unterricht, zwei Lehrerinnen hat Demos eingestellt und zwei Laptops gekauft, für 17 Roma, aber das kann sich morgen wieder ändern. Offizielle Zahlen sagen, dass sich derzeit etwa 80.000 Ukrainer in Moldau aufhalten, aber in Edineț erzählen sie davon, wie genau so viele in nur einer Woche ankamen. Als es ruhiger war jenseits der Grenze, reisten immer noch 5000 Menschen ein, am Tag. Die meisten wollen weiter, es hält sie wenig in diesem Land, das schließlich einst zu Russland gehörte, das auch noch nicht geschützt wird von EU und NATO. „Viele“, sagt Liliana Samcov, „haben Angst.“ Und die, die nicht viel zu tun haben, hätten noch mehr davon: „Sie denken mehr nach.“

Die gegangen sind, schreiben manchmal Briefe, sie danken für die Hilfe. „Gesundheit und Frieden“ wünscht Liliana Samcov ihnen dann, es ist ein Abschiedsgruß, Liliana Samcov wird erst jetzt bewusst, was sie da sagt schon ihr Leben lang. „Erst Corona, jetzt der Krieg: Gesundheit und Frieden sind genau das, was wir brauchen.“

Weihnachtsspendenaktion für ukrainische Kriegskinder

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    >>SO KÖNNEN SIE HELFEN

    Viele Flüchtlinge aus der Ukraine sind in den vergangenen Monaten nach Deutschland gekommen, noch viel mehr aber erreichten die Republik Moldau und Rumänien: über die nächste rettende Grenze. Dort packten Hilfsorganisationen, die sich sonst um Jugendliche am Rande der Gesellschaft kümmern, sofort mit an: Sie sorgen für Unterkünfte, Lebensmittel, Kleidung, inzwischen aber auch für Betreuung und Unterricht für die Kinder. Wenige Tage nach Kriegsbeginn knüpfte auch die Kindernothilfe Kontakte, über ihre Partner hat sie seither 20.000 Kinder erreicht.

    Hier können Sie, liebe Leser, mithelfen, den Familien fehlt es oft am Nötigsten, nur von Heimweh und Kummer haben sie viel. Die Bankverbindung der WAZ-Weihnachtsspendenaktion 2022 ist dieselbe wie in vergangenen Jahren:

    Kindernothilfe e.V.

    Stichwort: Ukrainehilfe

    IBAN: DE4335 0601 9000 0031 0310

    BIC: GENODED1DKD (Bank für Kirche und Diakonie)