Essen. Anleitungen im Internet, warum und wie man SUV-Reifen manipuliert: So radikalisiert sich die Szene der Klimaaktivisten auch in NRW.

Die Internet-Seite wirkt so normal wie tausend andere, aber der Inhalt ist sehr, sehr speziell. „So erkennst du einen SUV“ kann noch als Anfängerfrage für die Liebhaber von Geländewagen durchgehen, aber die nächste Rubrik offenbart: Hier schreiben seine Feinde. Sie lautet: „Wie man einen SUV-Reifen entleert.“

Aufkleber sind hier zu bekommen, Flugblätter kann man herunterladen, um sie an Fahrzeugen zu hinterlassen. „Sie werden wütend sein, aber nehmen Sie es nicht persönlich. Es liegt nicht an Ihnen, sondern an Ihrem Auto.“ Dass der Reifen zerstochen ist oder, wie zuletzt in Essen, platt. Man darf unterstellen, dass die Besitzer sehr wütend waren und der höfliche Ton ihnen irgendwo unten vorbeiging. In Essen, in Dortmund, in Bonn, Wuppertal, Berlin – und auch international.

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Überall dort haben in den letzten Monaten Gruppen, die sich „Tyre Extinguishers“ nennen, „Reifenauslöscher“, Geländewagen stillgelegt, indem sie die Luft aus mindestens einem Reifen ließen. Oder aus allen. Zuletzt in Essen-Bredeney. Zurück blieben Bekennerschreiben. „Wir tun dies, weil SUVs eine Katastrophe für das Klima, die öffentliche Sicherheit und unser aller Gesundheit sind“, heißt es darin: „Im vergangenen Jahrzehnt waren SUVs die zweitgrößten Verursacher für den Anstieg von Treibhausgasen.“

Die Eskalation ist da

Weiter geht es ausführlichst um besondere Unfall- und Verletzungsgefahren durch Geländewagen, dann kommt auch schon der Punkt: „Die Regierung hat darin versagt, uns alle vor diesen Fahrzeugen zu schützen, und friedlicher Protest hat zu keinerlei Veränderung geführt. Deswegen nehmen wir die Dinge nun selbst in die Hand . . . Wir werden weitere Aktionen durchführen.“ Höfliche Grüße, Ihre Reifenauslöscher.

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Doch die Eskalation ist da. In Wuppertal zuvor wurden Reifen zerstochen und über 30 Autos beschädigt. Und das Motiv für den kriminellen Akt lässt sich vielleicht ein Stück weit nachvollziehen, ohne es teilen zu müssen: Friedlicher Protest gegen den Klimawandel hat in den Augen vieler, die protestieren, bisher zu wenig bewegt.

Der Staatsschutz ermittelt

Droht nun die Radikalisierung? Jedenfalls ist der Staatsschutz in die Ermittlungen eingeschaltet.

Eine Radikalisierung sieht Michael Mertens, der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) schon allein darin, dass es „immer mehr wird“. Das Luftablassen sei „kein dummer Jungenstreich, sondern strafbar“. In jedem Fall sei es eine Sachbeschädigung, so Mertens, „aber wenn jemand nichts bemerkt, losfährt und es geschieht ein schwerer Unfall, stellt sich die Schuldfrage ganz anders. Das ist kein Spaß.“ Er rief die „Reifenauslöscher“ dazu auf: „Nutzt unsere Demokratie und unsere Freiheiten aus, aber im Rahmen dessen, was erlaubt ist.“

265 Straftaten in Zusammenhang mit dem Stichwort „Klima“

Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen hat sich im Spätsommer damit befasst: Damals zählte es für das Jahr 2022 insgesamt 265 Straftaten in Zusammenhang mit dem Stichwort ,Klima‘, davon elf an Autos. Die Auftritte der Reifenauslöscher seien „geeignet, eine größere Zahl von örtlichen und überörtlichen Klimaaktivisten anzusprechen und sie zur Nachahmung zu inspirieren“, heißt es in der damaligen Analyse. Konkrete Erkenntnisse zu etwaigen Verbindungen mit „Ende Gelände“ oder „Extinction Rebellion“ lagen dem LKA nicht vor.

„Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen“

„Wir sind friedlich und gewaltfrei“, sagt Ottmar Wolf, Sprecher der Essener Gruppe dieser „Rebellion gegen das Aussterben“ mit rund 20 Anhängern. Auch ein juristischer Leitfaden der Organisation schließt „jegliche Form von Gewalt, Aggressionen oder Provokationen physischer Art . . . strikt aus“. Es wird andererseits deutlich, dass Aktionen bis zur Grenze des Strafbaren erlaubt und gewollt sind. Und es heißt: „Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen.“

So schützt man seinen SUV

Doch zurück nochmal ins Internet. Auf Autofahrer-Seiten kursieren längst Tipps, wie man seinen SUV schützen könne. Es könne „durchaus sinnvoll sein, Ihr Fahrzeug an Orten zu parken, die von vielen Menschen frequentiert werden“, heißt es da. Und auf die Empfehlung von Garage, Tiefgarage und Parkhaus als hilfreichen Zufluchtsorten fehlt der Hinweis auf die Vollkasko-Versicherung: Dadurch würden auch Vandalismus-Schäden abgedeckt wie „abgebrochene Spiegel, abgeknickte Antennen oder aufgeschnittene Cabrio-Dächer“. Die Eskalation, die Radikalisierung im Hinterkopf.

Auch der ADAC kommentiert die Vorfälle

Da ist der einschlägige Hinweis des ADAC Westfalen wohltuend deeskalierend. Sein Sprecher Tobias Scheffel sagt: „In Sachen Nachhaltigkeit ist die Produktion eigentlich nicht benötigter neuer Reifen und die Entsorgung zerstochener Reifen jedenfalls nicht hilfreich.“