Mülheim. Die „Foodsaver“ bewahren Lebensmittel vor dem Müll und verteilen sie. In der Krise bekommen sie enormen Zulauf – und Probleme.
Wenn Anja Schellberg ihre Garage öffnet, kommt ein kleines Frischecenter zum Vorschein. Dabei füllen die Kisten und Regale nur Waren, die kein Markt mehr verkaufen will. Anja Schellberg will auch nichts verkaufen, im Gegenteil. Sie „rettet“ die Lebensmittel vor dem Container, wie sie es nennt, um sie zu verteilen. Pastinaken und Plattpfirsiche, Kürbisse und Kaktusfeigen, Brokkoli und Blaubeeren – geschenkt! Jede Woche, einfach so, nach Anmeldung. Kein Wunder, dass „Foodsharing“ in diesen teuren Zeiten solch einen Ansturm erlebt. Doch genau das könnte das Konzept bedrohen.
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Um neun Uhr an diesem Montag ist Schellberg zu einem türkischen Geschäft gefahren, das regelmäßig Lebensmittel an die „Foodsaver“ abgibt, wie die Mitglieder sich nennen. Danach fährt Schellberg zu einem Supermarkt, um den nächsten Rollwagen vor Ort zu sortieren. Mit einer Helferin macht sie nun vor ihrer Garage die Feinarbeit. „Die Handschuhe habe ich ja nicht umsonst an“, sagt diese. Manchmal sind schimmelige Tomaten dazwischen, manchmal haben die Äpfel nicht mal Schönheitsfehler, mussten aber der nächsten Lieferung weichen. In der braunen Tonne sind heute nur Kleinigkeiten und ein Häuflein Spitzkohlblätter gelandet. Schellberg knibbelt die Etiketten von der Folie der halben Melonen.
Geldspenden werden nicht angenommen
„Foodsharing“ ist eher ein Netzwerk als ein Verein (auch wenn nach einem Gerichtsurteil aus Duisburg jeder Bezirk ein nicht-eingetragener Verein ist). In Mülheim sind schon länger mehr als 200 Menschen für die Idee aktiv. Weitere 200 haben sich in den letzten Monaten gemeldet und sind zum Teil noch „in der Ausbildung“. Einige halten den Kontakt zu den Betrieben, andere fahren sie an, einige helfen mit bei der „Fairteilung“. Fast alle seien voll berufstätig, sagt Schellberg, ihre Sprecherin. Entsprechend fein müssen die Aufgaben zugeteilt werden, zeitlich und inhaltlich.
Auch die „Essensrettung“ wird natürlich teurer. Das Benzin, der Strom für den Kühlschrank, der Betrieb des Autos, womöglich auch die Miete der Räume. Zum Selbstverständnis gehört es jedoch, keine Geldspenden zu nehmen. Jeder „Foodsaver“ zahlt seine Kosten alleine. „Ich habe ein großes Auto“, sagt Anja Schellberg, die beruflich einen Kreativ-Laden betreibt. „Aber es ist 21 Jahre alt. Mit einem kleineren könnte ich nicht mehr abholen. Ich weiß nicht, ob ich es dann noch weitermachen würde.“
Die Zahl der Nutzer ist ähnlich angewachsen. Waren es vor der Pandemie noch rund 600 sind es nun fast 1400 Menschen, die von der „Fairteilung“ profitieren. Jede Woche erreichen Schellberg bis zu zehn neue Anfragen, obwohl sie die Facebook-Seite längst auf nicht-öffentlich gestellt hat. Aus dem ganzen Ruhrgebiet wollen sich Menschen in Mülheim anmelden, weil überall die Gruppen ihre Aufnahme scharf eingeschränkt haben. „Eine Frau hat mir eine Einkaufsliste geschickt: Ich habe Flüchtlinge eingeladen, ich brauche das. – Aber ich bin nicht die Flüchtlingshilfe.“
Kommen sie aus Not?
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„Unsere Aufgabe ist es nicht, die Armen zu speisen“, sagt Schellberg. „Wir wollen die Lebensmittel bewahren. Für die Produktion einer Paprika wurden Boden, Wasser, Dünger und Arbeit eingesetzt – und dann soll man sie wegschmeißen, nur weil sie durstig ist und ein paar Runzeln bekommt?“ Die „User“ kommen aus allen sozialen Schichten, wobei nach der Internet-affinen „Gründergeneration“ auch viele Rentner hinzugekommen sind. Und nun die Neuen? Kommen sie aus Not? „Ich frage niemanden nach seinen Verhältnissen“, sagt Schellberg. „Aber ich weiß, dass viele es nötig haben und darum glauben sie, sie könnten zulangen.“
Auch bei der Ausgabe beruht das System auf Selbstverantwortung. „Wir teilen nicht zu“, sagt Schellberg. „Wir geben Zeitfenster von zehn Minuten aus.“ Der erste Nutzer an diesem Morgen ist mittlerweile ein alter Bekannter. „Vor eineinhalb Jahren bin ich über einen Bekannten dazugekommen“, sagt der 69-Jährige. Er nimmt sich Tomaten, Rettich, Pfirsiche, Salat – „so viel wie ich brauche, aber mehr nicht.“ Und natürlich hilft es ihm, bei seiner kleinen Rente. Als Gegenleistung bringt er manchmal Kartons weg, hilft beim Aufräumen, hat das hölzerne Garagentor erneuert. Und so soll es sein – ist es aber nicht immer.
Der Ton wird rauer
„Dreimal haben mir schon Leute den Wein geklaut“, sagt Schellberg. Tatsächlich die Blätter von der Ranke an ihrer Garage. Und neulich wollte jemand an Kühlschrank und Gefriertruhe, die durch einen Vorhang getrennt im privaten Teil stehen. „Ich werde wohl eine Wand einziehen müssen, weil manche Leute nicht verstehen, wo Schluss ist.“ Bei einigen herrscht die Idee vor: „Oh, da kann ich kostenlos einkaufen.“ Andere, glaubt Schellberg, wollen auch nicht verstehen, dass hier Ehrenamt und Fairness gefragt sind. „Halt die Fresse. Was hast du zu meckern?“, hat Schellberg auch mal gehört, als sie jemanden ansprach, der sich die Taschen so vollstopfte, dass nichts mehr für die nächsten Kunden geblieben wäre. „Es macht schon Probleme, weiter Freude daran zu haben. Im Moment ist es wirklich schwierig.“
Und warum arbeiten die Betriebe mit Foodsharing zusammen? „Entsorgung ist teuer. Die Müllmenge verringert sich“, sagt Schellberg. Und natürlich tut es auch vielen Kaufleuten weh, Lebensmittel in den Müll zu geben. Zudem sind die „Foodsaver“ flexibel, kommen auch für kleine Mengen. Und tatsächlich gab es zuletzt etwas weniger Lebensmittel zu retten, denn die Supermärkte bekommen in diesen Zeiten Aktionsware besser los.
Keine Konkurrenz zur Tafel
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Immer wieder wird der Vorwurf laut, hier entstehe eine Konkurrenzsituation zur Tafel. Das sieht jedoch selbst die Tafel nicht so. „Bei beiden Organisationen gibt es den Ansatz, die Verschwendung von Lebensmitteln zu vermeiden“, sagt Dominik Schreyer, Geschäftsführer des Mülheimer Diakoniewerks, zu dem die dortige Tafel gehört. „Es gibt die Regel, dass sich Foodsharing zurückzieht, wenn sich die Tafel engagiert. Das hat bis jetzt gut geklappt. Ich sehe keine Konkurrenz.“ Tatsächlich hat Foodsharing schon 2015 mit dem Bundesverband Deutsche Tafel eine Kooperation vereinbart. Zu dieser gehört, dass die Foodsaver den Tafeln stets Vorrang einräumen.
„Wir nehmen im Gegensatz zur Tafel auch Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist“, erklärt Anja Schellberg. Schreyer bestätigt: „Wir haben zum Teil die gleichen Lieferanten, aber die Foodsaver fahren auch für kleinere Mengen am Nachmittag, während wir feste Touren haben.“ Manche Betriebe möchten zum Beispiel täglich abgeben, die Tafel kann aber nur alle zwei Tage. Samstags fährt sie in der Regel nicht. Dann kommen die Foodsaver zum Einsatz.