Ruhrgebiet. Ein weiteres Buch stellt „33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte“ vor. Besucher schätzen den Nervenkitzel: „Einen gewissen Gruselfaktor.“
Wie gut, dass es gegen blutigen Horror so wirksame Mittel gibt wie das Verwaltungsvollstreckungsgesetz. Damit hat die Stadt Oberhausen im April den Abriss des Hotels „Volksgarten“ erzwungen, einer leerstehenden Ruine, deren Inhaber vor langer Zeit im Keller gefoltert und ermordet worden sein sollen.
Den Titel „Horror-Hotel“ hatte es sich allerdings schon vor vielen Jahren, noch zu geöffneten Zeiten erworben wegen des sehr, sagen wir, eigenwilligen Verhaltens der Chefin - manch ein Kommentar erschütterter Einmal-und-nie-wieder-Gäste findet sich noch im Netz. Belege für die Morde gibt es hingegen keine, aber das stört ja keinen großen Geist: Tatsächlich dürften es auch die blutigen Geschichten aus dem Keller gewesen sein, die in den letzten Jahren Besucher in die Ruine zogen.
Der Zerfall des Oberhausener „Horrorhotels“ in Bildern
Es ist nicht abträglich, wenn im Lost Place eine Gruselgeschichte spielt
Vorbei. Es sei „nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Ort, der in diesem Buch vorgestellt wird, nicht mehr existiert“, schreibt der Reisejournalist Karsten-Thilo Raab seherisch im Vorwort seines neuen Buches. An das Hotel erinnern heute nur noch gestapelte, nun überflüssige Absperrgitter. Die 32 anderen Orte, die Raab beschreibt und zeigt, sind freilich alle noch da: „Lost & Dark Places Ruhrgebiet“, so der Titel - Bestandteil einer Reihe, deren andere Titel schon halb Deutschland abdecken.
Tatsächlich sind solche Führer fast schon ein eigenes Genre: Erst im Herbst 2021 ist „Verlassene Orte im Ruhrgebiet“ des Fotografen Daniel Boberg aus Hamm erschienen, davor schon andere. Sie alle eint: Es geht in verlassene und verfallende Häuser, Hallen oder Werkstätten, die irgendwie und (halb)legal zugänglich sind; und es ist nicht abträglich, wenn sie eine gute Gruselgeschichte beherbergen. Im Top-Lost-Place von NRW, der Villa Oppenheim in Köln, haben sich ja alle Inhaber im zweiten Stock das Leben genommen, nicht wahr?
„Es sind Zwischenwelten, eigentlich gibt es sie nicht mehr“
Fotografen ziehen solche Orte an, sie machen daraus Bücher. Stefan Hebele beschreibt es in der „Süddeutschen Zeitung“ so: „Es sind Zwischenwelten, eigentlich gibt es sie nicht mehr, aber sie sind noch da.“ Und handfester: „Ein verlassenes Gebäude bringt meistens einen gewissen Gruselfaktor. Da springt das Kopfkino an.“
Das ist auch der Grund für die Szene der „Urbexer“ („Urban Explorer“, Entdecker der Stadt), solche Gebäude zu besuchen. Neugier, Nervenkitzel, Angstlust. Gerne nachts. „Wenn du auf einmal Geräusche hörst, fragst du dich schon, ob die Polizei oder die Eigentümer auftauchen“, sagt eine Frau. Denn eventuell begeht sie gerade Hausfriedensbruch - und würde schon allein deshalb eine Begegnung mit dem Hausgespenst bevorzugen.
Inzwischen bieten Veranstalter auch geführte Touren an
Auch „Plünderer, Spinner und betrunkene Jugendliche“ seien oft im Lost Place anzutreffen, schreibt Karthen-Thilo Raab. Und ganz abgesehen von denen, ist die Urbexer-Szene inzwischen so groß, dass es auch viele Geschichten gibt von völlig überlaufenen verlorenen Orten. Was wieder ein schönes Beispiel ist für Tourismus, der zerstört, was er besucht.
Tatsächlich gibt es sogar Internet-Seiten („Die zehn aufregendsten Lost Places“) in dem Segment, ja Führungen und Veranstalter. „Informieren Sie sich vor ihrer persönlichen Urbexer-Expedition genau, ob am Lost Place Ihrer Wahl Touren von fachkundigem Personal angeboten werden“, heißt es bei „kurz-mal-weg-Reisen“ aus Hamburg („persönliche Expedition“ ist in diesem Zusammenhang besonders hübsch). So selbstverständlich ist das geworden, dass auf der Internet Seite von kmw-Reisen „Lost Places“ direkt neben der Rubrik „Die 13 schönsten Nordseeinseln“ stehen.
Mehrere Burgruinen, Autobahn-Abschnitte im Nichts, ein ehemaliges Bordell . . .
Das neueste einschlägige Buch, das von Raab, ist aus mehreren Gründen etwas anders. Es hat einen ausführlichen Textteil zu jedem beschriebenen Ort; und verlassene Wohnhäuser und verfallende Hallen der Industrie kommen nur wenige vor. Stattdessen tauchen bei ihm mehrere Burgruinen auf, vergessene Autobahn-Abschnitte im Nichts, eine frühere Auto-Rennstrecke in Gelsenkirchen, ein Ex-Bordell in Recklinghausen, in dem es gerne brennt . . .
Oder ein ehemaliger Fliegerhorst in Werl, der mit halbschlechtem Gewissen vorgestellt wird: „ . . . ist die Stadtgrenze zu Hamm, das Teil des ,Potts’ ist, nur wenige hundert Meter entfernt.“ Und Gruselgeschichten kommen fast nicht vor. Naja, die des Zwergenkönigs Goldemar schon, der auf Burg Hardenstein im heutigen Witten bekanntermaßen den Küchenjungen verspeist hat, nicht wahr?
Karsten-Thilo Raab: „Lost & Dark Places Ruhrgebiet - 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte.“ Bruckmann-Verlag, München 2022, 160 Seiten, 22,99 Euro.