Essen. Preisexplosion, Krieg und Pandemie: In der Bahnhofsmission werden die Verwerfungen unserer Zeit als Erstes sichtbar. Ein Besuch.

Eine junge Frau aus der Ukraine wird vor dem Essener Hauptbahnhof bestohlen. Am Supermarkt hat sie ihren Koffer aus den Augen gelassen. Sie wollte über Polen in die Ukraine zurückreisen, doch plötzlich hat sie nichts mehr. Verzweifelt schaut sie sich um ...

Die Preisexplosion, der Krieg, die Pandemie: Es gibt einen Ort, an dem die Krisen unserer Zeit als Erstes zusammentreffen, was nur folgerichtig ist, denn die Armen, die Flüchtenden, die Opfer von häuslicher Gewalt wollen entkommen, suchen Hilfe, setzen sich in Bewegung. Und landen häufig am Bahnhof – und dort bei der Bahnhofsmission. In 103 Städten ist sie vertreten und trotz ihrer Bekanntheit eine eher kleine Hilfsorganisation: mit rund 250 hauptamtlichen Mitarbeitern und vielleicht 2000 Ehrenamtlichen. In Essen wird sie getragen von Caritas und Diakonie und natürlich von Spenden.

Fabienne Garohn und Susanne Glunz-Paß stehen heute in der abschließbaren Kabine mit dem offenen Fenster, eine Honorarkraft, eine Ehrenamtlerin. Der Ukrainerin könnten sie einen Schlafplatz vermitteln. Reisehilfen gibt es nur in absoluten Notfällen, wenn nachweisbar kein eigenes Geld vorhanden ist. Aber die Frau ruft Freunde in Essen an, sie wollen ihr helfen.

Viele kehren nun in die Ukraine zurück

Der Fall ist nicht untypisch. In der ersten Phase des Kriegs standen die Helfer der Bahnhofsmission als erste ganz vorne, am zugigen Bahnsteig, und empfingen in der Nacht Menschen, die sofort einen Schlafplatz brauchten, die auf der Flucht funktionierten und bei ihrer Ankunft zusammenbrachen. Noch immer kommen Menschen an, viele sind in Transitländern wie Griechenland hängengeblieben. Aber häufiger sind nun die Rückkehrerinnen.

Viele Kunden kommen nur auf eine Tasse Kaffee. Rechts Ehrenamtlerin Susanne Glunz-Paß, links der Leiter der Bahnhofsmission Martin Lauscher.
Viele Kunden kommen nur auf eine Tasse Kaffee. Rechts Ehrenamtlerin Susanne Glunz-Paß, links der Leiter der Bahnhofsmission Martin Lauscher. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Eine junge Frau aus der Ukraine war ganz verzweifelt“, berichtet Martin Lauscher, Leiter der Essener Bahnhofsmission. „Ihr Vater war schon über sechzig und half bei der Landesverteidigung. Sie machte sich so große Sorgen um ihn, dass sie zurückfahren wollte, um an seiner Stelle den Einsatz zu machen. Wir redeten lange darüber. Was muss passieren, damit man zurück in ein Kriegsgebiet geht?“

Aber auch dies geschieht heute, neben dem Fall des gestohlenen Koffers: eine Umsteigehilfe für ein älteres Paar, vom Bahnsteig zum Taxi. Die beiden haben eine liebenswerte Mail geschrieben mit Foto, damit man sich erkennt. Brötchen, Apfel, natürlich die Tasse Kaffee – die meisten Kunden kommen an diesem Morgen für solche kleinen Hilfen. Eine Dame erkundigt sich, wo man am besten die Kleidung waschen lassen kann. „Haben Sie ein Körnerbrötchen, wenn es geht?“

Die Angst vor dem Winter

Kunden berichten, sagt Martin Lauscher, dass sie Angst vor dem Winter haben. Viele haben ja eine Wohnung, nur eben keine Arbeit oder einen Job, der wenig einbringt. Wo bekomme ich etwas zu essen, morgens, mittags oder abends? Diese Fragen nehmen zu. Aber die meisten Tafeln nehmen keine neuen Mitglieder mehr auf, weil sie überrannt werden. Die Suppenküche der Diakonie, die Elisabeth-Oase der Caritas, die private Initiative „Essen packt an!“ – es gibt Möglichkeiten, aber oft ist ein Nachweis der Wohnungslosigkeit nötig, dann fallen Menschen im Niedriglohnsektor durch das Netz. Auch Martin Lauscher ist dann ratlos. Er erwartet, dass im Winter „viele in krasse akute Notlagen kommen“.

„Wir kommen aus der Krise nicht mehr heraus, schon seit 2015“, sagt Christian Bakemeier, Bundesgeschäftsführer der Bahnhofsmission. Er bestätigt: Vielerorts geht es immer häufiger um Versorgung mit Lebensmitteln statt nur um Vermittlung. Es kommen zunehmend Menschen aus stabileren Verhältnissen, darunter viele jüngere Männer.

In der Pandemie hat sich etwas aufgestaut

Martin Lauscher leitet die Bahnhofsmission.
Martin Lauscher leitet die Bahnhofsmission. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Auch die psychischen Auffälligkeiten haben zugenommen“, stellt Martin Lauscher fest. In der Pandemie sind viele Einrichtungen geschlossen worden, das Jobcenter und Beratungsstellen. Es hat sich etwas aufgestaut. Und es sind neue Notlagen entstanden, weil einige nicht in der Lage sind, alleine Anträge zu stellen und darum weniger Hilfen bekommen.

An diesem ruhigen und doch so typischen Tag möchte ein Mann seine Geschichte loswerden, in der sich alle Institutionen gegen ihn wenden. Er sagt: „Die Dokumente, die funktioniert haben, funktionieren auf einmal nicht mehr.“ Und: „Ich habe nur logische und richtige Entscheidungen getroffen.“ Er lässt sich ungern unterbrechen. Fabienne Garohn hört sich die ganze Geschichte an. Vermutlich ist das die Hilfe, die man in diesem Moment geben kann.

Fliehen, in den nächstbesten Zug

Die Pandemie hat die häusliche Gewalt ansteigen lassen. Auch Martin Lauscher „hatte Kontakt zu einigen Frauen, die von furchtbaren Dingen berichteten“. Ein Beispiel: Sie Hausfrau, er Fabrikarbeiter. Mit der Pandemie kommt die Kurzarbeit. Am Anfang ist noch Geld da, doch als die Mittel knapp werden, drängt er sie zur Prostitution. Sie weigert sich. Er prügelt sie mehrfach, sie erwirkt ein Annäherungsverbot. Er hält sich nicht daran, und sie flieht schließlich in die Nachbarstadt Essen, oder vielmehr: einfach weg, in den nächstbesten Zug. Sie hat nur einen kleinen Koffer dabei. Die Helfer bringen sie in einem Frauenhaus unter.

Es schließt sich ein historischer Kreis, wie Martin Lauscher anmerkt: „Die Bahnhofsmission wurde 1894 gegründet, um sich um junge Frauen zu kümmern, die vom Land in die Städte gezogen sind.“ Um sie vor Ausbeutung und Prostitution zu schützen. Das gehört heute noch zu den Aufgaben der Bahnhofsmission – in allen Krisen, die sich hier wie im Brennpunkt kreuzen. Ob es die Geflüchteten sind, die Gewaltopfer oder die Armen.