Ruhrgebiet. In vielen Revierstädten entstehen vorübergehend „Stadtterrassen“: Treffpunkte an frischer Luft, die Parkplätze ersetzen. Verkehrswende von unten?
Die Alte Wittener Straße in Bochum ist eigentlich vor Arbeit ganz grau, gelegen am früheren Opel-Gelände, entschieden aus der Zeit gefallen. Dass hier einmal ältere Bewohner auf Sitzecken unter freiem Himmel Geschichten von früher aus ihrem Stadtteil erzählen würden - unvorstellbar. Dass der Bezirksbürgermeister im Sonnenschein Sprechstunde hält - nie gesehen. Dass ein Imker hier vorträgt - gab’s nie. Dass Menschen in dieser Straße einfach Platz nehmen und die Beine baumeln lassen - undenkbar.
Und doch passiert all das seit kurzem. Möglich machen es zwei neue Freisitze aus Holz mit freundlich bepflanzten Blumenkübeln und Fahrrad-Stellplätzen. Vielleicht 30 Leute finden hier Platz, die Nutzung steht jedermann frei, niemand muss sich anmelden, niemand muss etwas bezahlen oder kaufen. Wo vorher Platz war für zehn parkende Autos, sitzen jetzt Menschen beisammen und unterhalten sich. Bitte, nehmen Sie Platz auf der Stadtterrassen! Hier und andernorts
„Was alles möglich ist, wenn man den Autos etwas Platz nimmt“
Denn in vielen Ruhrgebietsstädten sind in diesen Sommerwochen Stadtterrassen aufgeploppt, doch geht es ausdrücklich nicht um „Spaßpartys für Anwohner“, sagt etwa Natascha Dietz aus dem Planungsamt der Stadt Bottrop. Der Gedanke hinter den Stadtterrassen (oder auch „Parklets“) sei es, zu zeigen, „was alles möglich ist, wenn man den Autos etwas Platz nimmt“.
Wenn man in die oberste Kategorie greifen will, sind sie also ein kleiner, selbstgebauter, aber vom Land geförderter Beitrag zur Großaufgabe namens Verkehrswende. Wobei die nötigen Straßenmöbel inzwischen auch kommerziell angeboten werden.
Kritik kreist vor allem um erschwertes Parken
Die Idee der Stadtterrassen, in San Francisco aufgekommen, in Berlin oder Hamburg längst angekommen, kam in der Corona-Zeit dann auch ins Ruhrgebiet spaziert: Zunächst in der sehr speziellen Form, dass Städte vereinzelt Gastronomen erlaubten, ihre Außenbereiche auf Kosten von Parkplätzen auszudehnen.
2021 verselbstständigte sich das schon etwas, aber jetzt, 2022, gibt es plötzlich viele kleine Stadtterrassen. Bochum, Dortmund, Essen. Gladbeck, Dortmund, Marl. Witten, Duisburg, Bottrop. Eine Aufzählung ohne jeden Anspruch, vollständig zu sein.
Vom „weltfremden Studenten-Schwachsinn“ - so ein Leserbriefschreiber in der Stuttgarter Zeitung - war es ein kurzer Weg ins Zentrum des Zeitgeistes. Natürlich gibt es weiter Kritik, von Anwohnern in Sorge um ihre Park-Möglichkeiten bis zu Essener Geschäftsleuten, die fürchten, ihre Kundschaft werde durch anhaltenden Park-Such-Verkehr vergrault. In Essen stehen Stadtterrassen vorübergehend in der nördlichen Innenstadt und in der Vorstadt vor einem „Fachgeschäft für Stadtwandel“. Was natürlich kein Zufall ist: Es müht sich überhaupt um „Nachbarschaft und Nachhaltigkeit“.
„Wer hier ohne Sonnenbrand rausgegangen ist, der hat gezaubert“
Gut 25 Kilometer westlich davon, in Witten, müssen Tobias Schunck und Joscha Kühn sich Ende Juni x mal erklären, als sie im Wiesenviertel nah der Innenstadt so eine Sitzecke zusammentackern. „Das ist für das Viertel eine echte Bereicherung, eine Attraktion“, sagt der benachbarte Gastwirt Waldemar Riedel. „Genau so etwas brauchen wir hier“, sagen andere Anwohner, oder auch: „Ein Gewinn für die Aufenthaltsqualität.“ Wieder andere sehen allerdings auch nächtlichen Lärm kommen und Müll liegen bleiben. Oder, in Bochum, Stolperfallen statt Sitzgelegenheiten.
In Bottrop sind es gegen Ende des Schuljahres Schüler gewesen, die angepackt haben: „Wer hier ohne Sonnenbrand rausgegangen ist, der hat gezaubert“, erinnert sich etwa Christian (17) vom Heinrich-Heine-Gymnasium. Auf drei früheren Parkboxen ihrer Sporthalle steht jetzt auch ein solches, einladendes Parklet. Die offiziellen Fördermittel haben sie damit allerdings verfehlt, denn die gibt es nur für deutlich sichtbare Sitzgelegenheiten an öffentlichen Straßen - und nicht auf dem Schulparkplatz.
Ohne Vorgaben von oben hat es nicht gut funktioniert
Überhaupt haben außerhalb der Aktion der Schüler die Stadtterrassen in Bottrop diesmal nicht gut funktioniert. In der Vergangenheit hatte die Stadtverwaltung immer einen Vorort und eine Straße definiert, wo sie entstehen sollten. Diesmal setzte sie allerdings mehr auf die schöpferische Eigeninitiative der Bürger und hatte Fördergelder und Bauanleitungen parat, aber keinen obrigkeitlichen Beschluss.
Doch daraufhin tat sich nicht viel. Der Grund liegt auf der Hand: Wer möchte schon die Person sein, die den Nachbarn Parkplätze wegnimmt? Es würde vermutlich zu dem einen oder anderen Konflikt führen - selbst wenn die Streitenden sich dazu äußerst angenehm draußen hinsetzen könnten.