Ruhrgebiet. Friedhöfe werden mehr und mehr zu naturnahen Inseln inmitten der Stadt umgewandelt. Doch die wilde Wiese zwischen Gräbern gefällt nicht jedem.

Die Großeltern lagen auf dem Ostfriedhof rechts der Hauptachse, daher erinnert sich Rolf Fricke noch gut, wie es damals hier aussah. Geschorener Rasen, Rhododendren und Immergrüns, rechteckige Gräber in Reih’ und Glied - so hatte Friedhof zu sein. Am Tor sieht es ja auch noch halbwegs so aus: kurzer Rasen, gelbe und rote Begonien, zu gefälligen Mustern gepflanzt. Sehr hübsch. Sehr naturfern.

Doch je weiter man vordringt auf diesen Bottroper Friedhof, desto mehr verschwindet die gemaßregelte Natur. Da wachsen plötzlich Storchenschnabel und Natternkopf, Brombeeren und Brennnesseln, einfach so, da wohnen Wildbienen und Erdhummeln, und an den Nachtkerzen ist passenderweise gerade jetzt eine Wildbiene im Anflug. Wahrscheinlich ist die doch bestellt! Egal. Guten Appetit, Biene. Das wollten sie ja nur: Insekten helfen.

Ein Friedhof in Bottrop ist nun offiziell „schmetterlingsfreundlich“

Der örtliche Nabu-Vorsitzende Rolf Fricke erläutert das Friedhofsprojekt.
Der örtliche Nabu-Vorsitzende Rolf Fricke erläutert das Friedhofsprojekt. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

„Es bleibt unendlich viel Platz frei, und diesen für die Natur zu nutzen, ist wunderbar,“ sagt Rolf Fricke (67), der frühere Biologie-Lehrer und jetzige Vorsitzende des Naturschutzbundes Bottrop. Der Landes-Nabu hat diesem Friedhof als erstem in Nordrhein-Westfalen den Titel „Schmetterlingsfreundlicher Friedhof“ verliehen. Das klingt zunächst kurios, fügt sich aber in einen massiven Trend, der inzwischen das ganze Ruhrgebiet erfasst hat: Friedhöfe natürlicher zu gestalten.

Da fließen mehrere Entwicklungen zusammen, und glücklicherweise auch noch in die gleiche Richtung: Der Abschied von der klassischen Erdbestattung schafft tendenziell viel Platz auf geschützten Flächen. Mehr Menschen wollen heute nach dem Tod einfach unter Wiesen oder Bäumen bestattet sein. Falls es noch nach ihnen geht, und natürlich guckt dabei niemand aufs Geld.

Aufruf: „Beim Abschied an das Klima denken“

Die Pflege eines naturnahen Grabes kostet die Hinterbliebenen allerdings tatsächlich deutlich weniger, die Pflege der gesamten Anlage kostet auch die Stadt weniger. Schließlich sind Artensterben und Klimawandel eh die Großthemen. Sehr schräge Aufrufe wurden in diesem Zusammenhang schon gedruckt: wie „Beim Abschied an das Klima denken.“.

„Friedhöfe gelten generell als ökologisch wertvoll“, sagt die Expertin Corinne Buch von der „Biologischen Station Westliches Ruhrgebiet“. Tiere und vor allem Pflanzen finden hier Zuflucht, nachts ist es dunkel, Autos müssen draußen bleiben, Sauerstoff entsteht. Bei einer Kartierung allein auf Mülheimer Friedhöfen hat Buch dort 400 Pflanzenarten gefunden, die im Ruhrgebiet als ausgestorben oder bedroht galten. Gewöhnliches Filzkraut, Knolliger Hahnenfuß, Fremder Ehrenpreis . . . Nie gehört? Das ist es ja gerade.

Essen legt Wildblumenwiesen an, Mülheim hat pflegefreie Bestattungsfelder

Projekt „Gotteswald“: Auch auf kirchlichen Friedhöfen wie hier dem evangelischen in Bochum-Stiepel ist es inzwischen möglich, sich in einer Urne unter einem Baum bestatten zu lassen. Pfarrer Jürgen Stasing hat ihn 2021 eröffnet.
Projekt „Gotteswald“: Auch auf kirchlichen Friedhöfen wie hier dem evangelischen in Bochum-Stiepel ist es inzwischen möglich, sich in einer Urne unter einem Baum bestatten zu lassen. Pfarrer Jürgen Stasing hat ihn 2021 eröffnet. © FUNKE Foto Services | Barbara Zabka

Friedhöfe weiter aufzuwerten, ist außerdem leichter, als neue Grünflächen zu planen und anzulegen - Friedhöfe sind ja schon da. Sie bringen auch viel mehr Fläche mit, als man ahnt: allein in einer mittelgroßen Stadt wie Bottrop 680.000 Quadratmeter.

Und so will Essen auf seinen Friedhöfen im nächsten Jahr 10.000 Quadratmeter Wildblumenwiese anlegen, Bochum gibt mehr naturbelassene Flächen auf bestehenden Friedhöfen für Bestattungen frei, Mülheim hat auf allen städtischen Friedhöfen pflegefreie Bestattungsfelder geschaffen. Recycelte Grabsteine fügen sich geschmeidig ins Bild und Urnen, die verrotten können. Düsseldorf verwandelt Friedhofsflächen in wilde Wiese. Mit Blick auf die Tierwelt, die sich dann einstellt, ist auch schon formuliert worden, Friedhöfe seien „unersetzlicher Lebensraum“.

Jetzt gibt es auch schon Streuobstwiesen auf Friedhöfen

Das, sagen wir, unregelmäßige Bild wilder Wiesen auf einem Friedhof gefällt allerdings nicht jedem. Denn in vielen älteren Köpfen ist noch ein anderes Bild von Friedhof verankert. Wie oft musste etwa das Gartenamt der Stadt Düsseldorf schon erklären, wilde Wiesen seien „artenreiche, naturnahe und ökologisch wertvolle Flächen“. Denn immer wieder gibt es Beschwerden, die Friedhöfe wirkten ungepflegt. Nur das Unkraut blühe. Dieselben Beschwerden gibt es übrigens auch über ökologisch orientierte - Golfplätze.

Doch es kommt noch schlimmer. „Das sieht ja aus wie ein Acker“, kommentierten Besucher, als die Stadt Bottrop auf ihrem größten, dem Parkfriedhof, Obstbäume pflanzte. Kirschen, Äpfel, Birnen. Inzwischen hat sich der Anblick buchstäblich ausgewachsen. Der Idee der Streuobstwiese neben Gräbern hängt jetzt auch Duisburg an. Insgesamt läuft es darauf hinaus, dass Bestattungen sich auf eine Kernzone konzentrieren und drumherum unterschiedliche naturnahe Flächen entstehen. „Da ist dann viel Leben drin“, sagt Fricke.

Der Ostfriedhof ist dann viel mehr: eine Heimstatt für viele Tiere und alle Insekten. Den schmetterlingsfreundlichen Titel hat der Nabu vor allem wegen des Menschen gewählt: Weil Schmetterlinge große Sympathieträger sind und man glatt befürchten muss, nicht alle Leute würden einen offiziell assel- oder spinnenfreundlichen Friedhof so überaus positiv betrachten. Aber letztere profitieren ja mit. Es lebe die Biodiversität.