Essen/Bad Neuenahr. Über zehn Monate ist es her, dass die Flut das Ahrtal verwüstete. Noch immer kommen Menschen jede Woche aus dem Revier zum helfen.
Wie man sie findet? Hannah Bruckmann lacht am Telefon. „Mittelstraße, Bad Neuenahr“, sagt die 22-Jährige aus Essen. „Und dann immer dem Lärm nach.“ Sie hätte auch sagen können: „Da, wo es staubt.“ Oder „wo der Bagger sich zwischen parkenden Autos hindurchschlängelt“. Wo gestemmt, geschleppt und aufgeräumt wird. Denn auch fast ein Jahr nach der Nacht des 14 Juli 2021, in der das Wasser kam, über 130 Menschen den Tod brachte und knapp 9.000 Gebäude zerstörte, gibt es noch immer viel aufzuräumen im Tal der Ahr. Und Helfer aus dem Ruhrgebiet sind jedes Wochenende dabei.
Aus dem damals reißenden Fluss ist wieder ein recht beschaulich dahinfließendes Flüsschen geworden. Der Dreck auf Straßen und Bürgersteigen ist weg, fast überall gibt es Strom, auch Internet ist kein Problem. Aber Rudi Dollischall winkt ab. „Davon darf man sich nicht täuschen lassen“, sagt der 65-jährige, der über Jahrzehnte bei der Dortmunder Energie und Wasser für die Fernwärme zuständig war und mittlerweile eigentlich in Görlitz lebt. „Man muss genauer hinschauen.“
Müllberge im Garten und die Erdgeschosse sind immer noch unbewohnbar
Wenn man das macht, sieht man die Müllberge in den Gärten, bemerkt die leeren Erdgeschosse auch in der Mittelstraße, die hunderte Meter weg liegt vom Fluss. So weit weg, dass heute unvorstellbar scheint, was im Juli geschah, als das Wasser meterhoch in vielen Gebäuden stand: „Hätte ich nie für möglich gehalten“, sagt Maria Sahr (79), die seit 60 Jahren hier lebt und in deren Bungalow die Helfer und Helferinnen vom „#teamballern“ heute aufräumen, ab- und einreißen. „Alle nicht tragenden Wände raus.“
Früh am Morgen haben sie angefangen, gegen Mittag sind gut 20 Männer und Frauen vor Ort. Drinnen rattern die Presslufthämmer und was sie zerlegen, das bringen die Helfer mit einer langen Eimerkette nach draußen. So wächst der Schuttberg, auf dem es sich viele von ihnen gemütlich machen, als jemand „Mittagspause“ ruft. Bockwürste im Brötchen und Frikadellen werden herumgereicht. „Wer macht Kaffee?“, fragt ein Mann. „Ist das Bier schon kalt?“, will ein anderer wissen.
„Was da wirklich passiert war, hat man lange nicht begriffen“
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Jeder hier kann eine Geschichte erzählen. Alle unterschiedlich und doch irgendwie ähnlich. Hannah etwa ist gut zehn Tage nach der Flut ins Ahrtal gekommen. Warum? „Weil ich zu Hause gelernt habe, dass man hilft, wenn jemand in Not ist.“ Entlang der Ahr sind viele in Not im Juli 2021. Deshalb hat sich dort der „Helfer-Shuttle“ gegründet, eine private Initiative, die Helfer und Hilfesuchende zusammenführt und auch Hannah in einen Bus setzt und in die Innenstadt fährt. „Man hat funktioniert“, erinnert sich die Essenerin. „Aber was da wirklich passiert war, das hat man lange nicht begriffen.“ Dafür begreift sie, „wie gut es mir selbst geht“. Und deshalb ist schnell klar: „Ich fahre da noch mal hin.“ Hannah arbeitet als Mediengestalterin, hat zwei Hunde und ein Pferd und macht Kampfsport. „Es ist nicht so, dass ich Langeweile hätte“, sagt sie.
Überall mangelt es an Handwerkern und Baustoffen
Langeweile hat hier keiner. Sie arbeiten als Installateure oder im Jobcenter, ziehen Kinder groß oder betreuen Eltern. „Manche Tage in der Woche sind halt länger“, sagt Hannah. Die Hilfe kommt damals von allen Seiten. Manche Helfer leben „um die Ecke in Bonn“, andere fahren Hunderte Kilometer bis ins Flutgebiet. Viele sind „vom Fach“, andere haben nie zuvor schweres Werkzeug in den Händen gehabt. Wochenenden und freie Tage verbringen sie an der Ahr, manchmal auch ihren gesamten Jahresurlaub. Sie sehen „unfassbar viel Leid“ und trösten sich gegenseitig. Sie schippen Schlamm, stemmen Putz und Estrich, reißen Fassadendämmung und Wände heraus. Sie übernachten in Not-Unterkünften, bringen ihr eigenes Zelt mit oder „pennen im Auto“. „Anfangs war ich so kaputt, da hätte ich auch im Stehen schlafen können“, erinnert sich ein junger Mann.
Flut wird zur „vegessenen Katastrophe“
125.000 Männer und Frauen waren da in den vergangen fast elf Monaten, über eine Million Stunden Arbeit haben sie geleistet, hat jemand beim „Helfer-Shuttle“ mal ausgerechnet. Mittlerweile aber ist die Zahl der Helfer zurückgegangen. Erst bremsten sie die hohen Corona-Zahlen, mittlerweile sind es die drastisch gestiegenen Spritpreise. „Das wird langsam richtig teuer“, hat nicht nur Christine (49) , Krankenschwester aus Kaiserslautern gemerkt, die von ihrem 17-jährigen Sohn begleitet wird und hin und zurück über 400 Kilometer Weg hat.
„Helfen“, räumt Rudi Dollischall ein, „muss man sich leisten können.“ Er kann es, er ist finanziell „gut aufgestellt“. Deshalb konnte er mit seinem Kastenwagen auch 40.000 Kilometer durchs Tal fahren, um Baumaterial zu transportieren. Er sieht aber noch einen anderen Grund für den Helfer-Rückgang und spricht von der „vergessenen Katastrophe“. „Viele Menschen im Land glauben, hier wäre alles wieder in Ordnung. Aber das ist es ja nicht.“
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Zum einen, weil Versicherungen oft nur schleppend zahlen und Anträge für Gelder aus dem staatlichen Wiederaufbaufonds nur langsam bewilligt werden. Das größte Problem aber: Überall mangelt es an Handwerkern und Baustoffen. Nach und nach arbeiten Fliesenleger und Putzer ihre Aufträge zwar ab. „Aber ohne die Ehrenamtlichen wäre ich verloren“, sagt Maria Sahr.
Aus Bekanntschaften sind Freundschaften entstanden
Die rund 40 Männer und Frauen um Dollischall und Bruckmann sind noch da. Auch weil aus Begegnungen längst Bekanntschaften geworden und aus Bekanntschaften Freundschaften entstanden sind. Über WhatsApp Gruppen hält man die Woche über Kontakt. „Und am Wochenende gehen wir nach der Arbeit auch mal zusammen in eine Kneipe, um zu feiern“, sagt Hannah. Seit es wärmer geworden ist, wird allerdings lieber gemeinsam gegrillt. Dollischall wundert das nicht. „Wir sind irgendwie alle von gleichem Geist.“ Dennis Bückling (28), Helfer ersten Stunde sieht das ähnlich: „Nicht lange labern, einfach machen.“
Wie lange sie sich noch helfen wollen im Tal der Ahr? „So lange wir können“, sagen sie. An fehlender Motivation, der Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben werde es jedenfalls nicht scheitern. „Wenn du die Freude und die Dankbarkeit in den Augen der Menschen siehst, denen wir geholfen haben“, sagt Stefanie aus Troisdorf, „dann weißt du, dass du alles richtig gemacht hast.“