Mülheim. Russlandkrise und Energiepreise geben der Windkraft Rückenwind. Das Ausbauziel ist aber kaum zu erreichen, wenn sich nicht diese Regeln ändern.

„Jeder kann sie sehen.“ Das ist das Dilemma der Windräder, sagt Thomas Tschiesche. Biomassekraftwerke und Solardächer stechen einfach nicht heraus aus der Landschaft und wedeln keine Schatten. Ein Windrad dagegen, das den Kölner Dom um 100 Meter überragt, ist für die einen ein Symbol des Fortschritts, für andere eine Verschandelung der Landschaft. Mit seiner Mülheimer Firma EFI Wind war Tschiesche an Planung und Bau von rund 900 Windkraftanlagen beteiligt – was etwa einem Viertel des NRW-Bestandes entspricht. Und er kann sich nicht erinnern, dass mal ein Bürgermeister zu einer Grundsteinlegung gekommen wäre.

„Den Leuten wird immer wieder erzählt, dass es ein Nachteil ist, wenn sie auf eine Windkraftanlage schauen müssen“, sagt Tschiesche. „Dass sie etwas erleiden müssen, damit andere Energie haben. Man gönnt Anwohnern die Opferrolle – das ist ein gesellschaftlicher Fehler.“ Sein Eindruck: Die Politik wehre sich vehement gegen die Windkraft, besonders im Land und vor Ort.

Aber dreht der Wind nicht gerade? Finger in die Luft: Russlandkrise und Kniefall vor dem Emir. Explodierende Energiepreise und Boom der Solarzellen. Habecks Pakete zu Ostern und im Sommer, die die Erneuerbaren entfesseln sollen. Der Druck der Klimaschützer und Bayerns Lockerung der Abstandsregeln … Andererseits bestehen diese Hemmnisse in NRW weiter:

Die 1000-Meter-Regel

Thomas Tschiesche aus Mülheim projektiert Windkraftanlagen mit seiner Firma EFI WInd.
Thomas Tschiesche aus Mülheim projektiert Windkraftanlagen mit seiner Firma EFI WInd. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Windkraft war schon vor fünf Jahren Thema im NRW-Wahlkampf. Gewonnen haben CDU und FDP auch mit dem Versprechen, die Windräder auf Abstand zu halten. Nach jahrelangem Hickhack trat dann im vergangenen Sommer die 1000-Meter-Regel in Kraft. Die jetzige Regierung will sie beibehalten und verweist darauf, dass Gemeinden die Regel per Bauleitplanung überstimmen können. Auch verweist das Wirtschaftsministerium auf eine Studie des Landesumweltamtes (Lanuv), nach der das Ziel erreichbar sei, bis 2030 die Windenergie im Land zu verdoppeln.

Allerdings legt diese Studie den gegenteiligen Schluss nahe: Zwar ist in NRW potenziell Platz für rund 2400 neue Windräder, doch die benötigten 60.000 Hektar liegen überwiegend in Schutzgebieten und vor allem dort, wo die Kommunen bislang eben keine Windräder wollten. All die neuen Windräder mit 12,8 Gigawatt Leistung könnten auch nur gebaut werden, wenn alle erwartbaren Klagen erfolglos blieben. Lässt man die Konfliktflächen außen vor, bleibt nur ein Potenzial von 306 Windrädern (auf 8700 Hektar). Das Ausbauziel ist also nur theoretisch haltbar.

Würde aber die 1000-Meter-Regel fallen zugunsten eines Abstandes von 720 Metern (was pauschal der dreifachen Höhe einer modernen Anlage entspricht), schnellt die verfügbare Fläche für Windkraft um 42 Prozent in die Höhe – bescheinigt das Lanuv dem Ministerium. Im konfliktvermeidenden Szenario beträgt das Plus gar 59 Prozent.

Praxisbeispiel? Tschiesche hat mit einer Waldgenossenschaft im siegerländischen Hilchenbach gerade einen Nutzungsvertrag über drei Anlagen abgeschlossen. Ohne 1000-Meter-Regel, sagt er, hätte er hier sieben Anlagen bauen können.

Ja, genau, im Wald. Der ist als Standort natürlich umstritten, auch unabhängig von bedrohten Arten. „Warum werden nicht primär die Flächen in Anspruch genommen, die bereits überbaut sind“, fragt Heide Naderer, Chefin des Nabu NRW. „Der Wald ist kein Gewerbegebiet. Windräder bedeuteten „eine permanente Störung“. Tiere flögen gegen die Rotoren, fühlten sich irritiert von Schattenwurf, Bewegung und Beton. Moderne Windräder sind 250 Meter hoch, wendet Tschiesche ein, der unterste Punkt ihres Rotors schweift in 80 Metern Höhe über die Kronen der Bäume. Welchen Einfluss das tatsächlich auf Tiere hat, darüber streiten die Gelehrten.

Tatsächlich gibt es Bewegung, das Landeswirtschaftsministerium bereitet gerade die Öffnung der „Kalamitätsflächen“ für die Windkraft vor. Das sind die Schneisen, die Borkenkäfer, Stürme und Dürre etwa im Sauerland hinterlassen haben. Die Nutzung soll „maßvoll und zeitlich befristet“ sein bei gleichzeitiger Wiederaufforstung, so das Ministerium. Der Nabu kritisiert dies als „Eintrittskarte“ in die breite Nutzung des Waldes.

Die Konzentrationszone

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Es gab bereits zwei genehmigte Standorte in Thomas Tschiesches Heimatstadt Mülheim, als diese 2009 eine Konzentrationszone einrichtete. Seitdem darf man nur noch am Styrumer Ruhrbogen Windräder errichten, und alle anderen möglichen Flächen sind gesperrt. Allerdings steht dort bisher nur ein einziges Windrad, errichtet von der Stadt selbst. Für zwei weitere wäre ohne 1000-Meter-Regel Platz, aber die Eigentümer hatten offenbar auch vor Einführung der Abstandsregeln kein Interesse.

„Offiziell sollten die Konzentrationszonen dazu dienen, der Windkraft Raum zu geben und schnell zu Genehmigungen zu kommen“, sagt Tschiesche. „Aber die Zonen werden oft dort ausgewiesen, wo die Erschließung teuer ist oder wo weniger Wind weht.“

Oder wo es rechtlich gar nicht möglich ist – zu diesem Schluss kommt wieder das Lanuv: Bei „knapp zwei Drittel der Fläche aller Windkonzentrationszonen in NRW beträgt der Abstand zu einem Wohngebäude weniger als 720 Meter“ – es wurden also ganz überwiegend ungeeignete Flächen ausgewiesen. „Aber welcher Projektierer“, fragt Tschiesche, „mag dagegen jahrelang klagen?“

Abstand zum Nachbarn

Man darf seinem Nachbarn nicht einfach Licht oder Belüftung verbauen. Darum gibt es die „Abstandsfläche“ im Baurecht. Vereinfacht muss man in NRW-Städten einen Abstand einhalten, der dem 0,4-fachen der Gebäudehöhe entspricht – oder der Nachbar muss zustimmen. „Die Regel wird jedoch auch im Außenbereich angewendet, wo es nur Wald und Felder gibt und keine Nachbarn“, sagt Tschiesche. Und für Windräder ist die Vorschrift sogar noch strenger, sie müssen die halbe Höhe Abstand halten. (Das gilt nur, wenn keine Wohnhäuser angrenzen. Sonst gibt die Rechtsprechung etwa die 3-fache Höhe als Abstand vor.)

Die Vorgabe wird in NRW zum planerischen Risiko, wenn eine Konzentrationszone in viele kleine Grundstücke aufgeteilt ist. Denn ein Nachbar kann durch sein Veto alles verhindern. Das passiert Tschiesche immer wieder. Er hat ständig etwa 80 Windräder in Planung, und fünf bis zehn dieser Vorhaben sind in der Regel blockiert aufgrund der Abstandsflächenregel. Es geht natürlich auch anders. Mecklenburg-Vorpommern hat den Grenzabstand für Windenergieanlagen im Außenbereich ganz abgeschafft. Und Hessen hat ihn auf das 0,2-fache der Bauhöhe reduziert.

Der Artenschutz

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„Heute kann ein einzelner Vogel eine Windenergieanlage verhindern – unabhängig davon, ob der Bestand gefährdet wäre“, sagt Projektierer Thomas Tschiesche. Auch der Landesverband Erneuerbare Energien (LEE) spricht sich dafür aus, auf die Bestandsentwicklung zu schauen statt auf einzelne Horste. Dagegen halten vor allem Umweltverbände, am schärfsten wohl der Nabu. „Es geht nicht nur um den einzelnen Rotmilan, sondern auch um seinen Lebensraum“, sagt die NRW-Vorsitzende Heide Naderer. Das Europäische Recht verfolge mit gutem Grund das Ziel, die Art über das Individuum zu schützen.

Tatsächlich ist es heute schon möglich, artenschutzrechtliche Ausnahmen zu genehmigen, wenn sich Bestände positiv entwickeln. Doch die Rechtsprechung ist widersprüchlich, die Unsicherheit der Entscheider hoch. Und an mehr als zwei Dritteln der möglichen Standorte tummeln sich „windenergieempfindliche“ Vögel, so das Lanuv.

Der Rotmilan und 20 weitere Arten gelten in NRW als „empfindlich“ gegenüber Windrädern.
Der Rotmilan und 20 weitere Arten gelten in NRW als „empfindlich“ gegenüber Windrädern. © dpa | Axel Heimken

Tschiesche hat mal einen Windpark in Hessen geplant, und der Rotmilan hatte sein Nest genau zwischen zwei Anlagen. „Wenn Sie einen Rotmilanhorst im 200-Meter-Umkreis haben, ist das der Todesstoß.“ Vier von sieben geplanten Windrädern seien „den Rotmilanaktivitäten“ zum Opfer gefallen. „Aber dann kam der Borkenkäfer, und auch der Milan war im nächsten Jahr verschwunden.“

Tatsächlich gibt es widersprüchliche Erkenntnisse: Der mit dem Nabu verbandelte Dachverband Deutscher Avifaunisten sieht „einen klaren Zusammenhang zwischen Windraddichte und Milanentwicklung“. Eine Auswertung seiner Vogelzählungen ergab: „In Landkreisen ohne Windräder nahm der Bestand zu, bei etwa 0,1 Windrädern pro Quadratkilometer waren die Bestände stabil, bei über 0,15 Anlagen“ war der Trend negativ.

Nach einer noch unveröffentlichten Studie für die EU-Kommission sterben allerdings „extrem wenige“ Rotmilane durch Windkraft. Häufigste Todesursachen: Fressfeinde und Rattengift. Dann der Straßenverkehr, Abschuss, Stromschläge und sogar Züge. Der Nabu wendet unter anderem ein, dass nur junge Vögel per GPS „besendert“ wurden und ältere womöglich häufiger gegen Windräder fliegen.

Neue Erkenntnisse gibt es aber zum Uhu. Jahrelang galt auch er als Verhinderer, bis ein Forscher herausfand: Hinauf zu den Rotoren fliegt der Uhu nur selten. Er sucht ja Mäuse auf dem Boden. „Jetzt spielt der Uhu keine Rolle mehr“ sagt Tschiesche. „In Haltern werden wir wohl eine Genehmigung bekommen trotz Vogel.“