Herne. Die Schuhmacherei gilt als aussterbendes Handwerk. Wer bestehen will, muss sich ständig entwickeln. Ein Besuch bei Vater und Tochter in Herne.
Leisten, bleibt bei eurem Schuster. Da hängen sie im Keller des Orthopädie-Betriebes Zänker, die Leisten aus Buche, jeder Leisten steht für den Fuß eines Kunden. Platte, klumpige, normale, kleine, große, verunfallte Füße. Geordnet nach Nummern, Nummer 69, Nummer 1181, Nummer 2440. „Der Vater hat sie noch einfach so irgendwo hingelegt, der wusste immer, den Meyer habe ich da hinten liegen“, sagt Orthopädie-Schuhmachermeister Andreas Zänker (57).
Aber das ist auch fast 70 Jahre her, und die Entwicklung bis in die dritte Generation - Vivienne Zänker, 27 - zeigt eigentlich ganz gut, wie dieses Handwerk sich verändert hat in den Jahrzehnten. Aus dem angesehenen Stand des Schuhmachers ist vielerorts Flickschusterei geworden, selbst das schon eine Seltenheit; unerklärlicherweise beschäftigt sich der arme Kerl oft auch noch mit Schlüsseln. Es sei denn, er - Verzeihung - ist mit der Zeit gegangen und tut das weiter. Und so eine Geschichte ist das hier.
„Mit Reparaturen könnte ich nicht mal mehr einen einzigen Gesellen beschäftigen“
Alfred Zänker hatte den Betrieb im damaligen Wanne-Eickel noch als Schuhmacher gegründet, machte aber wenige Jahre später selbst noch seinen zweiten Meister: Orthopädie-Schuhmachermeister - geschuldet, darf man annehmen, den vielen Kriegsversehrten damals. Der Sohn Andreas Zänker übernahm in den 80er-Jahren, und selbst seitdem hat sich schon wieder viel verändert.
„Die Leute laufen ihre Schuhe mehr denn je runter und werfen sie dann weg“, sagt er: „Mit Reparaturen könnte ich heute nicht mal mehr einen einzigen Gesellen beschäftigen. Vor 15 oder 20 Jahren waren es noch drei.“ Soviel zum Thema Nachhaltigkeit, das angeblich so ziemlich alle Menschen umtreibt.
Heutzutage scannen sie die Füße, und Leisten entstehen nach 3-D-Abbildern
Schuhe zu verkaufen, Massschuhe zu bauen: Beides hat an Bedeutung verloren und verliert weiter. Im Mittelpunkt steht heute, orthopädische Schuhe zu fertigen: die möglichst aussehen sollen wie Konfektionsschuhe, damit man dem Träger nicht schon von weitem ein Problem mit den Füßen ansieht. Heutzutage scannen sie die Maße der Füße, und die Leisten entstehen nach 3-D-Abbildern.
So klingt der Internet-Auftritt der Schuhmachermeister auch eher nach Sanitätshaus: „Rheumatiker-Versorgung“, „Kompressionstherapie“, „Propriozeptive Einlagen“, und tatsächlich sagen Vater und Tochter öfter „Patienten“ als „Kunden“. Denn „wir sehen uns viel mehr in Behandlungen stecken als früher“, sagt er.
Prophezeiung: Die Menschen werden vergessen, dass man Schuhe reparieren kann
Schuster, bleib bei deinen Leisten, nein, das hätte nicht funktioniert. Nach den Angaben des „Zentralverbandes des Deutschen Schumacher-Handwerks“ hat sich die Zahl der Meisterbetriebe seit dem Jahr 2000 nochmals halbiert auf rund 2000, und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist um ein Drittel gesunken. Gesellenprüfungen, Meisterprüfungen: alles stark rückläufig bis fast nicht mehr wahrzunehmen. 180 Azubis in ganz Deutschland vor 20 Jahren. Heute: 46.
Immer weniger Schuhmacher wegen immer billigerer Schuhe. Irgendwann, prophezeien Zyniker, wird der Mensch vergessen haben, dass man Schuhe reparieren kann. Die Gemeinde Preetz bei Kiel nennt sich selbst noch immer „Schusterstadt Preetz“, denn über 700 arbeiteten hier Mitte des 19. Jahrhunderts, Meister, Gesellen, Lehrlinge. Heute gibt es noch ein Schusterdenkmal, ein Schusterfest und einen Holzschuhmacher. Es ist, wenig überraschend, der letzte in Schleswig-Holstein.
„Der Patient kommt wegen seines Fußes, aber oft ist der Fuß nicht das Problem“
Und doch, und doch. Vivienne Zänker in Herne ließ sich einfach nicht davon abhalten, entschlossen den Weg zur Orthopädie-Schuhmachermeisterin zu gehen. „Mein Vater hat immer gesagt, mach’ was anderes, geh’ studieren. Aber nach dem Abi wollte ich immer noch.“ Sie habe es schon als Kind toll gefunden, wenn jemand auf der Straße ihren Vater ansprach mit dem Satz: „Danke! Ich kann wieder laufen.“ Und das sei ständig passiert. „Ich finde es toll, mit Menschen zu arbeiten und mir die Zeit zu nehmen, die ein Arzt nicht hat.“
Die Enkelin des Mannes, der zum Schuhmachermeister noch den Orthopädie-Schuhmachermeister baute, um auf der Höhe zu bleiben: Die macht nun zusätzlich zu ihrem eigenen Meistertitel eine weitere Ausbildung. Zur Heilpraktikerin und Osteopathin. Um den Blick zu erweitern. Von „Stuhlprobe“ redet sie gerade, auch von „Neurodermitis“. „Der Patient kommt wegen seines Fußes zu uns, aber oft ist der Fuß gar nicht das Problem. Das Problem kann auch die Halswirbelsäule sein.“ Die Fachfrau für Füße aller Art ist am Hals angekommen. Nennt es Wandel.