Recklinghausen. Andreas Kleinehr spielt Dudelsack und läuft damit regelmäßig durch seinen Stadtteil in Recklinghausen. Es geht nicht anders. Außer in der Firma.
Morgens, wenn das übrige Land sich gerade noch die Zähne putzt, ist Andreas Kleinehr schon im Betrieb, wegen der Musik. Denn da holt er seinen Dudelsack heraus und spielt ein knappes Stündchen. Im Vorbau, 150 Quadratmeter groß, sechs Meter hoch, viel Glasfassade, menschenleer. „Die Akustik ist toll.“ Gibt es denn keine Einwände? „Ich bin der Geschäftsführer.“ Er lächelt freundlich.
Nein, im Ernst: Wenn die ersten Beschäftigten in den Kunststoffbetrieb kommen, ist Kleinehr längst mit seinen Mails befasst. Denn so ein Dudelsack ist extrem laut und erfreut, ganz ehrlich gesagt, das ungeübte Ohr vielleicht nicht übermäßig. Und so hat der 53-Jährige sich auch für die Wochenenden etwas ausgedacht, etwas anderes - wer geht schon gerne samstags in die Firma?
Die Pferde des Reitvereins nehmen Reißaus, wenn er sich nähert
„Dudelsack, das geht nicht in der Wohnung“, sagt Kleinehr und setzt im durchaus geräumigen Wohnzimmer der Familie zu einem beweiskräftigen Ton an. Oh Gott, nein, das geht wirklich nicht in der Wohnung. Da fallen ja die Wände um. Also im Garten? „Dann drehen mir alle Nachbarn durch.“ Kleinehr hat überlegt, was tun, und die Lösung ist: „Wie mache ich das? Ich laufe.“
Und so kommt es nun, dass in dem zu Recklinghausen gehörigen Dörfchen Speckhorn nicht nur öfter die Flieger vom Flugplatz Marl-Loemühle zu hören sind und die Fernzüge von der sehr nahen Strecke Recklinghausen-Münster - sondern am Wochenende auch Andreas Kleinehr mit seinem an- und abschwellenden Dudelsackspiel. Über die Felder, in die Wälder. Die Pferde beim Reitverein nehmen Reißaus, wenn er kommt, aber wenn jemand reitet, setzt er das Instrument ab. Sicher ist sicher. Er will ja nicht die Pferde scheu machen.
Ein einziges Mal kam die Polizei wegen Ruhestörung
Er geht aber auch dudelsackspielend ganz normal die Kühlstraße rauf und die Reiffstraße wieder herunter. Da wohnen Leute. 1000 Männer und Frauen insgesamt in Speckhorn, das ein ausgeprägtes Eigenleben im Recklinghäuser Rahmen führt. Praktisch jeder hier kennt jeden.
Ein einziges Mal, sagt er, ist er mit einer Frau mit Hund aneinandergeraten. Und einmal kam die Polizei, sie war angerufen worden wegen Ruhestörung. Kleinehr hatte ein Ständchen gegeben und war dazu notwendigerweise stehen geblieben. Offenbar zu lange, doch die Polizei verstand.
„Die Leute freuen sich und klatschen“, sagt Kleinehr. Und tatsächlich. Niemand beschwert sich über sein probeweises „Auld Lang Syne“ vor Einfamilienhäusern, über sein „Sailing“ oder „Amazing Grace“ inmitten der Bebauung. Erstaunlicher Langmut? Nein, die wenigen Passanten nehmen kaum noch Notiz von Kleinehr, der Mann im Schottenrock gehört schon irgendwie zum Ortsbild. Ein einziges Mal habe ein Kind gerufen: „Papa, Papa, der komische Mann geht wieder mit dem komischen Ding los.“
Ein Dudelsackspieler muss zugleich blasen, drücken und spielen
„Dudelsack fand ich schon immer super“, sagt Kleinehr. Als er sich vor wenigen Jahren einen zu Weihnachten wünschte, hatte seine Frau eine deutlich bessere Idee: und schenkte ihm einen Dudelsack-Kurs bei dem Wittener Profi-Spieler Björn Frauendienst. Naja, ein Kurs? Die ersten beiden hantiert man nur mit einer Übungsflöte, erst danach darf man an den richtigen Dudelsack.
Denn der ist schwer zu beherrschen. Ein Dudelsackspieler muss in den Sack blasen, ihn zugleich mit dem Arm drücken und dann ja auch noch Musik machen auf einer Art Flöte. Die Herausforderung ist: Bei gleichmäßigem Luftdruck im Sack kommen auch die Töne gleichmäßig. Wenn man aber Luft hineinbläst, steigt der Druck - was Bewegungen des Arms ausgleichen müssen. Klingt komplex und ist es auch: „Nach zwei kleinen Bieren kann man nicht mehr Dudelsack spielen. Die Koordination funktioniert nicht mehr.“
„Die Lippe ist der erste Muskel, der schlappmacht“
Der Anfang war schwer. „Erst hat man nur einen Ton, dann irgendwann zwei Töne“, sagt Kleinehr: „Irgendwann kann man fünf Meter damit laufen, zehn Meter, 30 Meter . . .“ Und dann irgendwann wird Musik daraus, manchmal etwas anstrengend, auch für den Musiker: „Die Lippe ist der erste Muskel, der schlapp macht.“. Hauptsache, die Füße nicht.
Im Rentenalter wollen die Kleinehrs eine große Segeltour machen. Unter anderem nach Bora-Bora in der Südsee, Französisch Polynesien. Kleinehrs Vision von der Traumreise ist natürlich, dass er Dudelsack spielt, wenn sie in die Bucht segeln. Die Leute werden vermutlich sagen, da kommt ein komischer Mann mit einem komischen Ding.