Ruhrgebiet. Reihenweise leihen Stadtbüchereien im Ruhrgebiet neuerdings auch Saatgut aus. Es soll der Artenvielfalt dienen. An einer Stelle hapert es aber.

Links das Bücherregal „Garten und Pflanzen“, passt, rechts das Bücherregal „Ernährung“, passt erst recht. Dazwischen eine Schwelle zur Natur: Bei dem schönen Wetter steht die Tür offen, die hinausführt auf die sonnenbeschienene Terrasse der Stadtbücherei Mülheim. Wo, wenn nicht hier, sollte das kleine Holzkästchen also hängen, über dem „Saatgut teilen“ steht?

Mülheim war 2017 eine der ersten städtischen Büchereien im Ruhrgebiet, die eine Saatgut-Bibliothek aufbauten. Duisburg kam später hinzu, Heiligenhaus; Dortmund und Bochum zumindest mit ähnlichen Projekten, und jetzt im Frühjahr 2022 geht die Idee richtig ab: Moers, Neukirchen-Vluyn, Hattingen, Castrop-Rauxel, weiter draußen Neuss, Düsseldorf . . .

Ursprünglich eine Gegenbewegung zu gentechnisch veränderten Saaten

Anders als im normalen Handel muss das Saatgut samenfest sein, das heißt, seinerseits Pflanzen mit derselben Menge Samen hervorzubringen.
Anders als im normalen Handel muss das Saatgut samenfest sein, das heißt, seinerseits Pflanzen mit derselben Menge Samen hervorzubringen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Sie verleihen nicht mehr nur Bücher oder Filme, sondern gegebenenfalls auch den Moschuskürbis „Longue de Nice“ oder die Tomate „Schwarze Ananas“ - zumindest als Samen. „Wir hoffen, dass wir so zu einer blühenden Stadt beitragen“, sagt der Duisburger Bücherei-Direktor Jan-Pieter Barbian. Doch es geht um noch mehr.

Saatgut-was? Das Prinzip kommt aus den USA („Seed libraries“), ist entstanden als Gegenbewegung zu gentechnisch veränderten Saaten. Die Handhabung ist ganz einfach: Nutzer nehmen aus der Bücherei ein Tütchen Samen mit, pflanzen zuhause das entsprechende Gemüse oder die Blumen an - und viele Monate später, wenn diese Pflanzen selbst Samen produziert haben, bringt man davon ein Tütchen zurück. Was dann der oder die nächste nutzt. Eigentlich genau wie mit Büchern oder anderen Medien; naja, die Leihfrist ist schon länger.

„Sortenerhaltung fördert die genetische Vielfalt“

Der Sinn liegt auf der Hand. „Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Insekten- und Pflanzenvielfalt zu fördern, ist ein großes Thema, das viele interessiert“, sagt Sabrina Daubenspeck, die Sprecherin der Kleinstadt Neukirchen-Vluyn am Westende des Ruhrgebiets. Motto: „Saatgut leihen, Vielfalt ernten.“

Denn was die Bibliotheken verleihen, das sind nicht die gängigen Sorten an Tomaten, Gurken, Bohnen oder Salat, die man auch im Supermarkt findet. Sondern es sind heimische und seltene bis vergessene Arten. „Sortenerhaltung fördert die genetische Vielfalt und erhöht die Chance, resistente und an die Region angepasste Sorten zu erhalten, die mit den Folgen des Klimawandels besser zurechtkommen“, sagt eine Unterstützerin in Mülheim.

Verein verfügt über mehr als 2000 seltene Sorten

Samen der Kapuzinerkresse und DER Feuerbohne liegen auf einem Tisch bei der Auftaktveranstaltung in der Bibliothek von Neukirchen-Vluyn.
Samen der Kapuzinerkresse und DER Feuerbohne liegen auf einem Tisch bei der Auftaktveranstaltung in der Bibliothek von Neukirchen-Vluyn. © FUNKE Foto Services | Arnulf Stoffel

Wenn die Ökosysteme sich verändern, überleben die Pflanzen, die sich am besten anpassen; und die Chance, dass sich eine anpasst, ist bei geschätzt 3000 Tomaten-Arten weit größer, als wenn immer nur dieselbe Handvoll Arten angebaut wird, die es eh schon überall gibt. Die Agrarbiologin Marion May-Hacker sagt: „Viele Saatgut-Arten werden in Genbanken als Notreserve aufbewahrt, dabei kann nur regelmäßiger Anbau sie wirklich erhalten.“

Dahinter steckt also mehr: unter anderem auch der bundesweit tätige „Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN)“, mit dem viele der Bibliotheken zusammenarbeiten. Über seine Internetseite (www.nutzpflanzenvielfalt.de) kann jeder zu privater, nicht-gewerblicher Nutzung „über 2000 Sorten bei unseren Erhalterinnen und Erhaltern“ beziehen, darunter „circa 330 neu eingestellte oder wieder verfügbare Sorten“.

Die Auberginenart „Blaukönigin“ und die „Küttiger-Rübli“-Möhre

Da findet sich die Auberginenart „Blaukönigin“ neben „Küttiger-Rübli“-Möhren, und der schlitzblättrige Senf „Italia“ bei der Tomate „Ida Gold“. Eine Pflanzenwelt für sich. Das Logo des VEN ist die Pastinake „stellvertretend für viele vernachlässigte Gemüsearten und -sorten“ - allerdings hat das Gemüse in diesem Jahrhundert eine forsche Renaissance hingelegt in der Nische Babybrei. Süß, die Pastinake.

Freilich steht die Saatgut-Bibliothek vielerorts auf wackeligen Beinen. Eine Frage des Geldes, wie immer. Der VEN sammelt beispielsweise gerade für die teilnehmenden Büchereien in Sachsen. Und zumindest die erste Garnitur Samen müsste gespendet werden, danach trägt das System sich doch selbst. Theoretisch.

Bücherei-Leiterin: „Es geht immer mehr raus als rein“

Und dafür zurück nach Mülheim. „Die Saatgut-Bibliothek hat supergut begonnen“, sagt Büchereileiterin Claudia vom Felde. Doch das „Saatgut teilen“-Kästchen ist leer. Darunter steht noch „Nimm, gib, wie es gerade passt.“ Offenbar passt „Nimm“ den Leuten deutlich besser.

„Es geht immer mehr raus als rein“, sagt Claudia vom Felde. Vielleicht, kecker Gedanke, könnte man ja die Personalien der Ausleiher aufnehmen und ihnen im Fall des Falles eine Mahnung schicken oder eine Gebühr. Aber die Idee ist wahrscheinlich doch zu abgedreht.