Essen. Christian Karagiannidis warnt vor einer Überlastung der Normalstationen und mahnt: „Der nächste Winter macht mir noch größere Sorgen als dieser.“
In den kommende zwei Wochen entscheidet sich, ob angesichts der explodierenden Infektionszahlen wieder strengere Corona-Maßnahmen notwendig werden, sagt der Intensivmediziner Prof. Christian Karagiannidis. Zwar seien die Intensivstationen derzeit nicht überlastet, doch erreiche die Omikron-Welle jetzt teilweise massiv die Normalstationen der Krankenhäuser. Zugleich kämpften die Kliniken mit Personalausfällen.
„Omikron verläuft nicht immer mild“, mahnt Karagiannidis, der auch Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung ist. Im Gespräch mit Christopher Onkelbach kritisiert er die mangelhafte Digitalisierung von Krankenhäusern und Gesundheitsbehörden und fordert dringend die Einführung der digitalen Patientenakte. „Deutschland hinkt zehn Jahre hinterher.“
Täglich klettert die Zahl der Infizierten auf neue Rekordhöhen – wie besorgniserregend ist die Entwicklung?
Christian Karagiannidis: Wir müssen zwei Dinge voneinander trennen. Wir müssen sehen, wie schwer die Krankheitslast bei den Menschen ist, die tatsächlich auf die Intensivstationen müssen. Und zudem, wie hoch die allgemeine Belastung der Bevölkerung ist, also wie viele Menschen aus Krankheitsgründen ausfallen. Das ist entscheidend für die Frage, wie die kritische Infrastruktur arbeitsfähig bleibt und wie zum Beispiel der Betrieb eines Krankenhauses qualitativ aufrechterhalten werden kann.
Verlaufen Omikron-Infektionen weniger schwer?
Was die Krankheitsverläufe angeht, kann man von einer guten Nachricht sprechen. Omikron verläuft zwar nicht immer mild und wir wissen noch wenig über Long-Covid. Wir sehen im Klinikalltag Verläufe, in denen die Lunge betroffen ist. Aber Omikron ist sicher nicht so gefährlich und tödlich wie Delta. Das ist nicht nur gut für die Patienten, sondern entlastet auch das Krankenhauspersonal von den ganz schweren Fällen. Wenn man auf die hohen Inzidenzen schaut, dann sind die Zahlen bei den über 60-Jährigen entscheidend, da diese meist schwerer betroffen sind. Und hier sind die Inzidenzen zurzeit noch vergleichsweise niedrig.
Wie ist die Lage in den Kliniken?
Derzeit sind die Intensivstationen nicht mit Covid-19 überlastet, da Omikron nicht so viele schwere Verläufe verursacht. Doch wir sehen, dass die Welle auf den Normalstationen ankommt. Sorgen machen uns die hohen Personalausfälle. Wir haben null Reserven. Wir müssen die Kapazitäten ausweiten und notfalls Personal aus anderen Klinikbereichen rekrutieren. Wenn ein Drittel der Pflegekräfte ausfällt, dann kann man eine Intensivstation nicht mehr betreiben. Aber auch die Krankheitslast in der Bevölkerung darf man nicht unterschätzen.
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Wie meinen Sie das?
Mir machen die hohen Personalausfälle Sorgen. Eltern können nicht zur Arbeit gehen, weil ihre Kinder krank sind und Infektionen nach Hause tragen oder in Quarantäne sind. Auch bei uns sind Mitarbeiter betroffen. Das wird in den nächsten Wochen sicher noch schlimmer werden. Das wird für die Kliniken eine große Herausforderung werden.
Sind neue Kontaktbeschränkungen notwendig?
Die kommenden zwei Wochen sind entscheidend. Wir brauchen ein Monitoring, wie viele Menschen in den nächsten vierzehn Tagen mit Corona-Infektionen in die Krankenhäuser kommen. Wenn wir merken, da läuft etwas völlig aus dem Ruder, dann müssen wir gegensteuern. Wenn die Lage aber beherrschbar bleibt, können wir mit den bisherigen Corona-Maßnahmen zunächst fortfahren.
Brauchen wir eine generelle Impfpflicht?
Ja, ich bin für eine generelle Impfpflicht. Man kann darüber diskutieren, ob sie für Personen ab 18 Jahre oder ab 50 Jahre gelten soll. Für beides gibt es Argumente und es ist letztlich eine politische Entscheidung. Dabei muss man bedenken, dass es immer noch über drei Millionen Ungeimpfte bei den Über-60-Jährigen gibt. Wenn wir hier die Impfquote nicht erhöhen, werden wir im kommenden Winter wieder große Probleme bekommen. Der nächste Winter macht mir größere Sorgen als dieser.
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Trotz der aktuell extrem hohen Corona-Infektionen?
Ja, denn wenn im kommenden Herbst und Winter Influenza- und Covid-Viren gleichzeitig zuschlagen, dann wird es im Winter richtig hart. Und davon sind wieder vor allem ältere Menschen betroffen. Und im Laufe des Jahres, wenn sich die Corona-Lage entspannt, werden wieder andere Erreger, die wir durch Masken und Kontaktbeschränkungen zurückgedrängt haben, wieder auftauchen. Da bin ich mir sicher.
Durch fehlende Daten gab es zeitweise einen Blindflug durch die Pandemie. Wo liegt das Problem?
Was mir überhaupt nicht gefällt ist, dass wir digitaltechnisch zehn Jahre den anderen Industrieländern hinterherhinken. Das nervt mich mittlerweile. Wir wissen nicht, wie viele freie Krankenhausbetten wir haben, wir wissen nicht, wer da liegt, wir wissen nicht, was die Leute haben. Uns fehlen Daten wie in Israel, an denen man zum Beispiel erkennen kann, wann die Impfwirkung nachlässt. Ich finde: das geht so nicht.
Was müsste passieren?
Wir brauchen endlich und ganz dringend die elektronische Patientenakte. Daran sehe ich als Arzt sehr schnell, welche Vorerkrankungen der Patient hatte, seinen Impfstatus, welche Medikamente er nimmt und so weiter. Und weiß dann viel besser, wie ich ihn behandeln kann. Das wurde schon 2003 gesetzlich geregelt, das müssen wir jetzt richtig schnell einführen. Auch in den Kliniken und Gesundheitsbehörden muss die Digitalisierung vorangetrieben werden, auch hier würde die elektronische Patientenakte viele Probleme lösen. Diese Situation ist für ein modernes Pandemiemanagement nicht hinnehmbar.
Sie sind Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung – hätte man ein solches Gremium früher einrichten müssen?
Ja, obwohl man nicht vergessen sollte, dass die Merkel-Regierung oft auch gute Entscheidungen getroffen hat. Aber für die Transparenz wäre es gut gewesen, wenn man auch früher schon einen Expertenrat einberufen hätte. Ich finde es sehr gut, dass die jetzige Bundesregierung das Gremium eingesetzt hat. Ich glaube, dass die Stellungnahmen der Experten einen echten Input geben können.
Wann erreichen wir auf das Ende der Pandemie?
Ich bin insgesamt optimistisch. Wir sind im Grunde gut durch die Pandemie gekommen, besser als viele andere Länder, wenn man sich die Todeszahlen ansieht. Es wird in den nächsten Wochen einen Höhepunkt bei den Omikron-Infektionen geben, aber im Frühjahr und Sommer wird sich die Lage entspannen. Ich denke, dass wir 2022 in den endemischen Status kommen. Aber dazu fehlt noch ein letzter Schritt: Viele Ungeimpfte müssen geimpft werden.
>>>> Zur Person
Christian Karagiannidis (48) ist Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin und wurde 2016 auf die erste Professur für extrakorporale Lungenersatztherapie an der Universität Witten/Herdecke berufen.
Im Krankenhaus Köln Merheim leitet er das ARDS- und ECMO-Zentrum der Lungenklinik. Der Intensivmediziner ist Mitglied im 19-köpfigen Corona-Expertenrat der Bundesregierung.