Ruhrgebiet. Seit Jahren sterben die Kneipen. Jetzt hat eine neue eröffnet. Eine Seltenheit. Er zocke, sagt der Wirt, hat sich aber in Wahrheit viel überlegt.
Draußen weht die Fußballfahne, brennt die Lichtreklame von Sky Sport, und der Aushang im Kasten neben der Eingangstür verrät ja schon den ganzen Rest: Die Speisekarte stützt sich heute ganz wesentlich auf Bockwurst und Kartoffelsalat, dafür ist die Getränkekarte ausgesprochen reichhaltig. Hm. Eine Kneipe? Schließen die nicht alle? Seit 15 Jahren? Wer eröffnet denn heutzutage noch eine Kneipe? Herr Weber.
Peter Weber stammt aus dem Erzgebirge und ist Kältemonteur, schon immer; aber eine Kneipe hatte er seit Jahren auch noch geführt in Bochum-Weitmar. Sie war ihm schmerzhafterweise gekündigt worden zum 31. März 2020, doch heute sagt der 63-jährige: „Das war mein Glück.“ Denn in der ersten Corona-Runde, die damals anbrach, hatte er mit fixen Kosten und fehlenden Umsätzen fast nichts mehr zu tun.
Wenn der Wirt da ist, bleiben auch die Gäste
62 Jahre alt damals, über 40 Jahre gearbeitet, Kneipe geschlossen: Guter Zeitpunkt für die Rente eigentlich, oder? „Wenn die Kneipe voll ist, ist es schon stressig, aber eigentlich ist es für mich Erholung“, sagt Weber. Und so schaute er sich um im Vorort unter den leeren Kneipen - kein Mangel hier an leeren Kneipen - und stieß auf dieses havarierte China-Lokal, das nach einem Brand nicht mehr auf die Beine gekommen war. China kam komplett raus. Ruhrgebiet kam rein. Im November 2020 wollte Weber eröffnen. Dann kam - der nächste Lockdown.
Ärger von gestern. Das „Westhoff Linie 1848“ ist jetzt seit einigen Monaten auf und gut besucht von Menschen, die 2G nachweisen können. Nicht jeden Abend gut besucht, versteht sich, „aber einen kleinen Tacken verdient man“. Kickertisch hat er aufgestellt, Dart-Scheiben aufgehängt und die Spielautomaten. Alte Weisheit beherzigt: Wenn der Wirt da ist, bleiben die Leute. Und der Wirt ist abends da. Knobelt hier mit, kickert da mit. Stellt gerade zwei Gästen das Pils auf die Theke: „Jungens!“ - „Cheffe!“
Gaststättenverband sieht eine „berechtigte Zurückhaltung“ bei Neueröffnungen
Wer eröffnet denn heutzutage noch eine Kneipe, Herr Hellwig? Thorsten Hellwig ist der Sprecher des Gastgewerbeverbandes Dehoga in NRW. Es gebe, sagt Hellwig, in Nordrhein-Westfalen eine „berechtigte Zurückhaltung“ bei Neueröffnungen. Gelegentlich nehme man eine wahr, aber nicht systematisch (und im Zweifelsfall ist es dann eher ein veganes Café). An Zahlen festmachen kann der Verband seine Eindrücke nicht. Das Gewerbeamt Bochum zählt Ende November diesen Jahres jedenfalls 1562 Schankbetriebe - 1587 waren es vor Corona, nur 25 mehr.
„Jedes gastronomische Konzept kann aufgehen“, sagt Thorsten Hellwig. Wie man „nicht generell sagen kann, Burger funktioniert immer, kann man auch nicht sagen, Kneipe funktioniert nie“. Es brauche nur „die richtige Stelle und die richtige Gästeschaft“. Kleinigkeit.
Fußball-Fans kommen zum Vorglühen - und später zum Frust-Bier
„Das war mein Gedanke, los, zocken, Weber“, sagt Weber über die Gründung. Aber in Wahrheit hat er sich viele Gedanken gemacht, hat mit seinen vier Bedienungen nach dem richtigen Ort gesucht und manchen verworfen. Bis sich das frühere Chinalokal mit seinen vielen Vorzügen sozusagen in den Weg stellte. Es hat: drei Haltestellen praktisch vor der Tür. Den Schlosspark gegenüber. Die Radwege-Trasse ganz in der Nähe. Und hier, an einer der großen Ausfallstraßen aus Bochum heraus, „fahren täglich tausende Leute vorbei“. Oh, denken sie, da ist ja wieder was.
Samstagnachmittag, der Laden ist jetzt sehr gut besucht, Weber mitten drin. Zwei der großen Straßenbahnlinien zum und vom Ruhrstadion fahren hier vorbei. Beziehungsweise halten, das ist ja das Gute. Mittags glühen die ersten Fans vor. Auf der Toilette ein Fernsehbildschirm. „Wie bescheuert bist du denn?“ Ein Teil fährt weiter, ein Teil guckt hier Sky. Nach 18 Uhr trifft man sich wieder. An diesem Samstag: zum Frust-Bier. „Jungens“ - „Cheffe“.
„Wenn du es nicht probierst, kannst du auch nicht heraus bekommen, was funktioniert“, sagt Weber: „Jetzt kann ich nur hoffen, dass wir nicht wieder zumachen müssen.“ Er erinnert sich an den Gedanken, mit dem er damals seiner ersten Kneipe nähertrat: „Ich habe immer gerne noch ein Bier nach der Arbeit getrunken.“ Wenn’s nur danach ginge, wären natürlich alle Wirt.