Düsseldorf. Auf Bahnsteigen wird es manchmal sehr eng. Forscher untersuchen, wie sich die Menschenmengen besser lenken lassen: Wer wartet wo warum?
30 Stühle in Zweierreihen, ein paar mobile Wände drumherum, eine Schiebetür aus Sperrholz - fertig ist der S-Bahn-Wagen. Naja, für Forschungszwecke reicht es: Das Gebilde aus Holz und Vorstellungskraft steht in der früheren Philippshalle in Düsseldorf und tut natürlich nur so, als wäre es ein Waggon. Nur das Gedrängel, das ist echt.
„Der Zug fährt ein, die Türen öffnen sich“, sagt eine Helferin und zieht die ruckelige Tür auf. Menschen steigen aus, die Wartenden auf dem nachgebauten Bahnsteig lassen ihnen eine schmale Gasse - wie es oft so ist. Doch zack - da drängelt sich der erste vorzeitig gegen die Aussteigenden herein. Was passiert? „Eine gewisse Drängel-Dynamik“ stellt die Psychologin Anna Sieben von der Ruhr-Universität Bochum fest. Motto: Wenn der sich durchdrängelt, darf ich das auch. Stampede!
Die Zahl der Fahrgäste in Zügen wird steigen, aber die Bahnhöfe wachsen nicht mit
Sieben gehört zu den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die seit Freitag ein Experiment in der Halle begleiten. Es geht um Gedrängeforschung, die Professor Armin Seyfried vom Forschungszentrum Jülich nun so erklärt: „Stau-Forschung für Fußverkehr.“
Der Hintergrund ist nicht so lustig. Im Bus- und Zugverkehr sind täglich 36 Millionen Menschen in Deutschland unterwegs. Ihre Zahl wird langfristig wachsen, sagen alle Prognosen. „Bahnsteige sind heute oft schon in Alltagssituationen überfüllt“, sagt Seyfried. Und wenn dann noch eine Großveranstaltung dazukommt, Unwetter, Zugausfall - - - irgendwas ist ja immer.
Welchen Einfluss hat die Form der Absperrgitter auf die Dichte der Menschen?
Zugleich sind viele Bahnhöfe nicht mehr groß ausbaufähig. In Köln würden sie vermutlich weder den Rhein noch den Dom verlegen wollen, „dann bleibt nur übrig, den Hauptbahnhof auf die andere Rheinseite zu verlegen oder die Menschen besser zu steuern“, so Seyfried.
Und so suchen sie hier nach Wegen, das Verhalten von Menschenmengen zu deren eigener Sicherheit zu beeinflussen, ohne gleich Gitter aufzustellen. Obwohl: in einem abgeteilten Areal der Halle stehen auch die. Die Frage: Hat es Einfluss auf die Dichte, wenn die Gitter die Schlange unterschiedlich formen? Als Gerade? Als Kurve? Mit einem 90-Grad-Knick? Jetzt, am Freitagnachmittag, weiß man das noch nicht - aber sie experimentieren ja bis Montagabend.
„Die Leute werden schnell kompetitiver, auch im Experiment“
Auf den Fortschritt warten ja immer alle, aber für den Fortschritt? 370 Probanden täglich stellen das Geschiebe auf Bahnsteigen nach. Mit mehr oder weniger Gepäck, mit mehr oder weniger Gedrängel, ein wenig werden sie zu bestimmtem Verhalten auch gedrängt: „Bringen Sie sich mehr ein“, sagt die Helferin, was man getrost mit „Seien Sie etwas gemeiner“ übersetzen darf.
Denn die Komparsen werden ja während des viertägigen Experiments bezahlt und ernährt, müssen nicht wie im wirklichen Leben schnell zur Arbeit oder zum lebenswichtigen Vorstellungsgespräch. „Das ist natürlich kein echter Stress“, sagt Sieben, die Psychologin: „Aber in der Gruppe fühlt es sich schnell echt an. Die Leute werden schnell kompetitiver, auch im Experiment.“ Außerhalb der Wissenschaft, auf dem echten Bahnsteig würde man statt „kompetitiv“ vielleicht eher „unverschämt“ sagen.
Die Erforschung des Wartens steht noch vor Rätseln
So kommt es dann, dass die fiktive Pommesbude auf dem nachgebauten Bahnsteig mal mehr rechts steht und mal mehr links, mal ist die auch kleiner und mal größer. Ändert das etwas? Ganz ehrlich gesagt: Die Erforschung des Wartens versteht in vielen Fällen bisher nur Bahnhof.
„Das Warten ist noch nicht gut verstanden. Wann man gerne wo wartet“, sagt Sieben. Die Leute wollten sich einerseits „nicht absondern, aber auch nicht“ (drängt sich an einen Kollegen heran) „so stehen“. Manche Menschen stünden lieber „im Gefahrenbereich an der Bahnsteigkante, als jemandem zu nahe zu kommen“.
Stress wird gemessen an der Zahl der Herzschläge und der Absonderung von Schweiß
Druck messen sie bei dem Experiment, Herzschläge und Schweißabsonderung, um das Stress-Level der Beteiligten zu erforschen. Die tragen alle eine Art von grünem Turban, der einen individuellen QR-Code enthält und von den Kameras unter der Decke gefilmt wird. So können die Forscher individuelle Laufwege erfassen. Seyfried: „Wir wissen dann, diese 50-Jährige Frau von 1,70 Metern Größe hat diesen oder jenen Weg gewählt.“
Und dann ist da noch das Kapitel Selbsteinschätzung: Auf einem Fragebogen beantworten die Teilnehmer, wie sie den jeweiligen Durchgang empfunden haben. Nach 40 Maßstäben: „Ich habe gedrängelt“, zum Beispiel, „Die Menschenmenge war aggressiv“, aber auch „Die Menschen waren sehr hilfsbereit“. „Wir beobachten generell eine große Hilfsbereitschaft“, sagt Professor Seyfried. Es sei denn, der Zug kommt gerade.