Ruhrgebiet. Nach mehr als 13 Millionen Immunisierungen sind die 53 Impfzentren in NRW Geschichte. Die allerletzte Spritze in Bochum bekam ein 100-Jähriger.
Fort mit Tupfern, Spritzen und Trennwänden, her mit Turngeräten, Kabeln und Mikrofonen, auf den Stühlen für Patienten sitzt bald wieder Publikum: Ab sofort sind die Impfzentren in NRW Geschichte. 53 Sport-, Kongress- und Musikhallen im Land dürfen wieder werden, wofür sie gedacht sind. In acht Monaten wurden hier mehr als 13 Millionen Spritzen gegen Corona gesetzt.
Heinz Jacoby war in Bochum der erste und der letzte, und auch beim dritten Mal tut’s immer noch nicht weh. Der 100-Jährige kam am 8. Februar – wir erinnern uns an Minustemperaturen und Schneetreiben – in den Ruhrcongress und sagte gelassen: „War schon mal schlimmer.“ An diesem Donnerstag sagt er: „Kann nur besser sein.“ Erst- und Zweitimpfung hat der Malermeister gut vertragen, nun klebt erneut ein weißes Pflaster auf dem faltigen Oberarm. Die Auffrischungs-Impfung, „wenn’s denn sein muss“, sagt Herr Jacoby, „recht schönen Dank“.
„Ich will ihn ja noch ein bisschen behalten“
Seine Tochter Karin hält sich an den Sonnenblumen fest, die sie vom Oberbürgermeister bekam. Sie sei „sehr, sehr, sehr glücklich“, dreimal sehr, und außerdem „beruhigt: Ich will ihn ja noch ein bisschen behalten“. Der Vater sagt noch, es sei wichtig, dass die Leute sich impfen lassen, wenn sie „zum Verein gehen oder zum Kegelclub, wenn sie zusammen sein wollen. Das schadet ja nichts.“
Das war also Impfung 213.712 in Bochums Impfzentrum und zugleich die letzte. Kurz vor der Schließung kommen am Donnerstag noch 105 Willige, nur elf haben einen Termin. Danach müssen Ordner weitere Menschen abweisen. „Wir haben geschlossen.“ Die 105 bekommen ihre Spritze, quer durch alle Altersgruppen, die Ärztinnen haben nicht gefragt nach dem Warum. Aber sich selbst fragen sie schon: „Wo waren die in den letzten 34 Wochen?“
Hundertjährige kommen zur Erstimpfung – auf den letzten Drücker
Das fragen sie sich in Mülheim auch. „Sprachlos“, sagt der leitende Impfarzt Stephan von Lackum, habe das Team in den vergangenen Tagen noch um die 50 Patienten täglich empfangen: „Wo die noch herkommen?“ Genesen, im Ausland gewesen, vorher keine Gelegenheit gehabt, sagten die Leute, aber unter ihnen war auch dieses Ehepaar: er 100, sie 98, kein Hausarzt. Sie bekamen ihre Erstimpfung. Von Druck durch den Arbeitgeber hörten Mediziner, Notarzt Dr. Thomas Franke beobachtete „einen Schub, seit klar war, es wird teurer“. Ab dem 11. Oktober kosten Tests Geld.
Doch unterm Strich war der Andrang in den Impfzentren zuletzt immer stärker zurückgegangen. Mehr als die Hälfte der Impfungen sind inzwischen durch niedergelassene Ärzte in ihren Praxen erledigt worden. Die Impfzentren stemmten seit Februar mehr als sechs Millionen Impfungen im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) und mehr als fünf Millionen in dem der KV Westfalen-Lippe. In der vergangenen Woche aber kamen dort nur noch rund 5000 Impflinge in die Zentren, in der Vorwoche waren es noch doppelt so viele.
67 Prozent der Nordrhein-Westfalen sind mittlerweile durchgeimpft. „Den Aufwand für ein Impfzentrum“, sagt in Mülheim der Mediziner von Lackum, „kann man nicht mehr betreiben.“ Abgesehen von den größten Posten für Miete, Betrieb und Personal hat Bochum das verbrauchte Material aufgelistet: 17.000 Impfpässe, 69.000 Masken, 260.000 Handschuhe, fast 10.000 Kittel, 374.000 Tupfer, 3500 Liter Desinfektionsmittel...
Tausende Mitarbeiter nehmen Abschied
Am Tag, als alles zu Ende geht, werden sie in den Impfstellen trotzdem wehmütig. Erzählen hier wie dort von lachenden und weinenden Augen, vom Stolz, in Mülheim eines der erfolgreichsten Impfzentren in NRW gewesen zu sein. Vom Zusammenwachsen der riesigen Teams, vom Wir-Gefühl, von einer Einheit, die Feuerwehrleute, Medizinische Fachangestellte, Ordner, Reinigungskräfte, Ärztinnen und Sanitäter formten. Tausende waren sie in Millionen Arbeitsstunden. „Wie eine Familie“, sagt Stephan von Lackum. Das Impfzentrum sei dabei „wie ein Baby, das man gemeinsam großgezogen hat“, sagt in Mülheim die Chefin Sabine Schön.
Wobei sie schon fast verdrängt haben, wie schwer das „Baby“ es anfangs allerorten hatte. Als alle 53 Zentren fertig waren, es aber keinen Impfstoff gab. Als monatelang Verteilungskämpfe tobten, als Menschen in Tränen ausbrachen, aus Dank, weil sie eine Spritze bekamen, oder aus Enttäuschung, weil das Vakzin schon wieder alle war. Als Bochum mit einem Stromausfall kämpfte, Mülheim mit einem Feueralarm und in Essen Warteschlangen stundenlang wurden und immer länger.
Gesundheitsminister Laumann lobt Zusammenarbeit
In Bochum erinnern sie zum guten Schluss an das Land, das die Arbeit mit „37 Erlassen in 34 Wochen“ erschwerte. Nicht nur Heinrich Vogelsang, den Ärztlichen Leiter des Zentrums in Oberhausen, hat das „einfach nur genervt“. Der zuständige Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) reagierte mit Lob: Die Impfzentren hätten gezeigt, was im Gesundheitswesen möglich sei, wenn alle an einem Strang ziehen. „Eine derartig enge Zusammenarbeit wäre auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens wünschenswert.“
Im Impfzentrum kriegen Nachzügler ihre Spritze nun aber nicht mehr. Bis spätestens Ende Oktober wird zurückgebaut, es übernehmen die Arztpraxen oder mobile Angebote der Städte. So will es das Land, in den Impfzentren sind sie nicht nur aus Nostalgie skeptisch: In Mülheim, rechnet Stephan von Lackum vor, impften nur 44 Ärzte weiter, viele haben schon mit der Auffrischung zu tun, für die es noch nicht einmal eine klare Empfehlung gibt. „Andere Städte haben noch größere Probleme.“
Wer sich freut, sind die Hausherren der Hallen: „Wir können wieder machen, was wir eigentlich lieben“, sagt in Bochum Janina Schulzki vom Ruhrcongress. Obwohl auch die Impfungen dem „Publikum“ Freude gemachte haben: In zwei Wochen schon eröffnet die Konzertsaison, nach Patricia Kelly kommen die „Sixx Paxx“ – und da werden mehr als Oberarme freigelegt.
>>INFO: POST VOM MINISTER BLEIBT VORERST LIEGEN
Über 185.600 Menschen in Nordrhein-Westfalen haben bereits eine Auffrischungsimpfung gegen das Coronavirus erhalten. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat ein Schreiben an die über 80-Jährigen verfasst, in denen er sie zum „Booster“ einlädt. Doch der Brief liegt vorerst auf Eis: Noch hat die Ständige Impfkommission (Stiko) noch keine konkrete Empfehlung gegeben.
Vorerst sollen laut Stiko nur besonders verletzliche Personen, etwa Immunsupprimierte, zum dritten Mal geimpft werden. Nach Absprachen der Gesundheitsminister der Länder werden tatsächlich aber in den Seniorenheimen bereits Auffrischungsimpfungen vorgenommen, auch in Arztpraxen und zuletzt den Impfzentren bekommen Tausende täglich ihre dritte Spritze.