Ruhrgebiet. Weinberge, Klassenzimmer, Brücken ins Nichts und seltene Vögel. Was Sie über die Emscher vielleicht noch nicht wussten.
Im Bottroper Süden fließt die Berne entschlossen Richtung Emscher, ihr Bett ist aus Beton und umzäunt, und selbst die legendären „Lebensgefahr“-Schilder stehen hier noch. Dass das Ganze ein Denkmal ist, darauf kommt man erst, wenn der gesunde Menschenverstand sich hinlegt.
Doch eine Art Denkmal ist es: ist das einzige Stück im Emscher-System, das im künstlichen Urzustand der letzten 100 Jahre erhalten bleiben soll. Die Kloake Emscher und ihre Zuflüsse werden wieder Natur, aber 150 Meter Berne bleiben die alten. Man sagt ja auch: Früher war alles schlechter.
Gerüche werden nicht reproduziert
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Spätere Generationen können sich dann hier ein Bild davon machen, wie die Emscher und ihre Zuflüsse 100 Jahre lang aussahen. So weit ist es schon gekommen. Allerdings geht der geschichtsbewusste Ehrgeiz der Macher nicht so weit, dass sie die Gerüche der Kloake reproduzieren wollten. Der Emscher-Satz, er fällt hier nicht: „Riechst du das auch?“ Man sieht es schon: Man muss nicht zurückgehen bis zur Emscher-Nixe, um seltsame Geschichten zu finden.
Wir präsentieren: 150 Zeilen überflüssiges Wissen über einen stinkenden Fluss. Muss man mögen. Doch es gibt da Weinberge, Klassenzimmer, Brücken ins Nichts – und seltsame Vögel in jeder Hinsicht.
Die Heimat eines seltenen Vogels
Am Borbecker Mühlenbach haust ja die Wasserralle. Sie kennen die Wasserralle nicht? Sehen Sie, so selten ist der Vogel. An diesem Bach im Essener Norden verzögerte das Rote-Liste-Vieh den Bau eines Überlaufbeckens um fünf Jahre, dann war in wenigen hundert Meter Entfernung auf Mülheimer Gebiet endlich ein neues Biotop geschaffen für die anspruchsvolle Wasserralle. Umgezogen ist sie, aber angekommen im Sinne von brütend? Gelegentlich schleicht sich ein Vogelkundler in das Biotop und gibt in sein Handy ein, dass es einmal ruft wie die Wasserralle. Denn die echten Vögel antworten nur, wenn sie brüten. Ihr Ruf wird gerne übersetzt mit „Hau ab! Hier ist unser Revier!“
„Winzerweg“ heißt eine Straße in Dortmund, „Am Rebstock“ eine andere oder „Weingartenstraße“: Denn im Mittelalter wurde in der Hitze von Hörde schon Wein angebaut. Ein Klimawandel setzte den Rebstöcken und dem Weindurst ein kühles Ende. Die Dortmunder machten fortan andere Fässer auf. Bis 2014. Da wurde der erste Emscher-Weißwein von einem Hang am Phoenixsee geerntet. „Neues Emscherland Phoenixsee.“ Dann kam roter hinzu. Und die Emscher-Genossenschaft will demnächst am Wasserkreuz neue Weinberge anlegen. Sie entstehen da, wo die Emscher den Rhein-Herne-Kanal unterquert, in Castrop-Rauxel. Welches ist das größere Wunder?
Kinder lernen im „Blauen Klassenzimmer“
Am Oespeler Bach im Dortmunder Westen findet sich der vermutlich einzige eingezäunte Grand Canyon der Welt. Den Vergleich hat die Lokalpolitik gezogen, als der Bach aus dem Kanal befreit war und wieder oben floss. Ganz so steil und hoch ist es natürlich bei weitem nicht, aber ein Einschnitt ist es schon. Um Leben zu schützen, ist jetzt dieser natürliche Bachlauf umzäunt. Zehn Kilometer südlich davon weiß Schulleiterin Annette Tillmanns noch genau, wie es früher hinter dem Gymnasium aussah: „Dicke Rohre, Brache, ein Zaun, dahinter nichts“ – die Emscher war ja verrohrt und unter der Turnhalle versteckt.
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Heute plätschert sie liebenswürdig und renaturiert hinter dem Gymnasium dahin. Das hat hier inzwischen ein ,Blaues Klassenzimmer’: einen Lernort in der Natur, am Wasser unter freiem Himmel. Inzwischen gibt es solch blaue Klassenzimmer auch in Duisburg, Gladbeck, Recklinghausen, und in Herne und Essen entstehen weitere. Nur eines ist anders als im Gebäude: Bei Regen müssen die Kinder sofort weg. Es könnte eine große Welle kommen. Es ist halt immer noch die Emscher, nur in sehr, sehr schön.
In einem Wäldchen zwischen Gelsenkirchen und Herne steht eine Brücke, die überquert nichts mehr und die führt nirgendwo hin: Denn den Fluss, den sie dermaleinst überspannte, den gibt es nicht mehr. Die Fleuthe wurde geopfert, als die Emscher verlegt wurde. Dafür ist die Brücke heute ein restauriertes Baudenkmal, und selbst die Bushaltestelle heißt nach ihr: „Fleuthebrücke“.
Übernachten in der Betonröhre
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Norbert Schaldach schenkt der Emscher Liebe, und sie bedankt sich mit Geschichten. Schaldach ist ein Kind des Ruhrgebiets, er wuchs auf in Dinslaken an der Emscher („Heimatgeruch“) - typischerweise war aber das Wohnzimmer der Familie schon in Duisburg. Der Beruf verschlug Schaldach nach Bielefeld, doch seit 2016 kommt er regelmäßig mit dem Rad herunter, fährt an der Emscher entlang, trifft Menschen und schreibt darüber in seinem Blog (emschermensch.de). Sehr sympathisch, sehr nahbar, und die Geschichten kommen quasi auf ihn zu: „Manchmal sitze ich an der Emscher und schaue mal, was passiert. Passiert immer was.“
Doch einmal noch zurück zur Berne, dem Emscher-Denkmal in Bottrop. Ganz in der Nähe erhebt sich in Kleinschrift „dasparkhotel“, wobei, erhebt? Es ist ganze 2,40 Meter hoch, so dick wie ein Kanalrohr eben, denn die fünf Zimmer sind fünf eingerichtete Kanalrohr-Stücke.
Durch ein Bullauge kann man den Himmel über der Ruhr sehen. Tagsüber setzt sich der Gast vielleicht raus ins Grüne, vor die frühere Maschinenhalle nebenan, genießt den Anblick der ehemaligen Klärbecken und freut sich am deutlichen Summen der Autobahn 42. Auch lohnt sich der kurze Fußweg zur betonierten Berne. Und natürlich heißt das ganze Ensemble: Berne-Park. Nichts für Schöngeister. Mehr Ruhrgebiet geht nicht.