Essen. Wird Astrazeneca erneut zum Ladenhüter? Die Stiko empfiehlt nun allen als Zweitdosis ein mRNA-Vakzin. Was nicht nur medizinisch sinnvoll ist.

Es dauerte keine Stunde, da war Jörg V. am Sonntag wieder daheim – und begeistert: Ostern hatte der 64-Jährige aus Wattenscheid einen der damals heiß begehrten Termine im Bochumer Impfzentrum ergattert. Mitte April erhielt er seine erste Dosis Astrazeneca. Am Sonntag stand die Zweitimpfung gegen Corona an. Zwei Tage zuvor hatte die Ständige Impfkommission empfohlen, dafür statt des Vektorimpfstoffs ein mRNA-Vakzin zu wählen. V. war skeptisch, „ob man diese Entscheidung so rasch würde umsetzen können.“ Das Bochumer Impfzentrum konnte: V. bekam, wie gewünscht, Biontech – und den Code für seinen digitalen Impfausweis gleich dazu. „Wunderbar gelaufen“, findet er.

Für Experten ist unstrittig, dass die Empfehlung der Stiko medizinisch sinnvoll ist, nicht nur angesichts der raschen Ausbreitung der Delta-Variante aus der Furcht geboren. „Es ist eine sehr gute Idee, ich hatte ehrlich gesagt schon darauf gehofft“, sagt etwa Prof. Mirko Trilling vom Institut für Virologie der Essener Universitätsmedizin. In der Forschung kombiniere man seit langem verschiedene Impfstofftypen („das Beste aus verschiedenen Welten“), um eine stärkere oder breitere Immunantwort zu provozieren. Im Bereich der HIV-Impfstoffentwicklung etwa gebe es vielversprechende Ansätze für heterologe Impfungen.

„Vertrauenswürdige Ergebnisse“ aus gleich mehreren Studien

Als Ende April seltene, aber teils sogar tödliche Hirnvenenthrombosen im Zusammenhang mit einer Impfung mit Astrazeneca bekannt wurde, riet die Stiko aus Vorsichtsgründen erstmals zu einem heterologem Impfschema, damals allerdings nur für die Unter-60-Jährigen. Damals gab es allerdings auch noch keine Studien zum Thema. Inzwischen liegen erste Ergebnisse aus gleich mehreren Studien vor, unter anderen aus dem Saarland; die größte ist die Oxforder Com-Cov-Studie mit 830 Probanden. Noch vor der Veröffentlichung in der wissenschaftlichen Fachpresse machten die Forscher sie publik – offenbar überrascht, wie positiv die Ergebnisse ausfielen. „Das sind respektable Daten erfahrener Kolleginnen und Kollegen, meines Erachtens vertrauenswürdige Ergebnisse“, findet Trilling. Dass die heterologe Impfung es ermöglicht, schneller zu impfen, ist für den Virologen ein weiterer Vorteil. „Wir brauchen bis Herbst möglichst breiten Impfschutz für möglichst viele Menschen, gerade weil wir im Augenblick erste Anzeichen einer gewissen Impfmüdigkeit beobachten“, betont er. Zwischen zwei Astrazeneca-Impfungen sollten neun bis zwölf Wochen liegen – bei der Kreuzimpfung mit zwei verschiedenen Impfpräparaten reichen vier Wochen Abstand.

Bei der Betriebsimpfung auf dem Gelände der MC-Bauchemie in Bottrop können am Freitag, den 18. Juni 2021 wegen erhöhter Menge an Impfstoff auch Familienmitglieder geimpft werden Foto : Frank Oppitz / FUNKE Foto Services
Bei der Betriebsimpfung auf dem Gelände der MC-Bauchemie in Bottrop können am Freitag, den 18. Juni 2021 wegen erhöhter Menge an Impfstoff auch Familienmitglieder geimpft werden Foto : Frank Oppitz / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Kassenärztliche Vereinigungen (KV) und Hausärzteverbände bestreiten die Richtigkeit der Entscheidung nicht, wohl aber ihren Zeitpunkt: Sie fürchten, dass nun erneut eine kraft- und nervenzehrende Phase insbesondere für die niedergelassenen Ärzte startet. „Es kann doch nicht sein, dass nach mehr als 16 Monaten Pandemie offensichtlich immer noch nicht allen klar ist, dass derartige Entscheidungen immer ein kleines Erdbeben (...) auslösen und die Umsetzung Zeit benötigt“, erklärte etwa die KV Westfalen-Lippe. „Viele Patienten werden gleich heute in den Praxen anrufen und neue Termine für die Zweitimpfung ausmachen wollen“, ergänzt Monika Baaken, Sprecherin des Hausärzteverbands Nordrhein. Die Umstellung bedeute Riesenaufwand. Sie bittet Betroffene abzuwarten, auch wenn es schwer falle: „Einmal ausgemachte Termine für die Zweitimpfung einfach einhalten!“

„Es ist genug für alle da“

Ihr geht es dabei um die Logistik, den Aufwand und Stress für die Praxen. Dass im Augenblick nicht genügend mRNA-Impfstoffe, also Biontech und Moderna, vorhanden seien, fürchtet sie nicht. „Es ist genug da für alle, es kommt ja jetzt auch deutlich mehr.“ Viele Praxen machten in den Ferien zudem Urlaub. „Da verteilt sich der Impfstoff besser. In der letzten Woche musste der ein oder andere Hausarzt Patienten sogar schon aktiv zur Impfung auffordern.“

Wenn die Menschen des Impfens müde werde, „muss die Impfung jetzt eben zu den Menschen kommen und nicht umgekehrt“, glaubt Thomas Preis, der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein.“ Er ist zuversichtlich, dass künftig zuverlässig geliefert werden kann, was an Vakzinen noch benötigt wird. Der Apotheker befürchtet eher, dass Astrazenenca nun doch wieder zum Ladenhüter wird. Die ersten Ärzte, erzählt er, hätten die bestellten Astra-Dosen, die gestern ausgeliefert werden sollten, gar nicht annehmen wollen. „Da müssen wir nun überlegen, wie wir damit umgehen. Rückabwicklung oder Nicht-Annahme von Vakzinen ist überhaupt nicht geregelt.“ Es hatte wohl niemand damit gerechnet, dass es dazu kommen würde...

Nicht alle Länder erkennen Vollschutz nach Kreuzimpfung an

Offen ist schließlich, ob die heterologe Impfung von anderen Ländern anerkannt wird. In Europa gilt der Vollschutz gegen Corona nach der Misch-Impfung als gegeben, in Kanada auch, in den USA und anderen Ländern dagegen nicht. Denn die Weltgesundheitsbehörde WHO verwehrt der heterologen Impfung ihre Empfehlung. Warum? „Die WHO war auch bei anderen Impfstoffen eher zögerlich und sprach erst nach großen Phase-3-Studien Empfehlungen aus“, erklärt Virologe Trilling. „Doch wir sollten jetzt umgehend reagieren, die Stiko hat das aus meiner Sicht absolut richtig gemacht.“ Er sei sehr zuversichtlich, dass die WHO „nachziehen“ werde: „Die Anerkennung der Kreuzimmunisierung als gleichwertiger Schutz wird aus meiner Sicht kommen.“