Witten. In der Wittener Innenstadt entstehen fast alle Weichen, die im Netz der Bahn gebraucht werden. Gute alte Industrie - und alles ist riesig.

So gut versteckt, das riesige Werk. Es liegt mitten in Witten, mitten in der Wohnbebauung, nah zum Rathaus, noch näher zum Hauptbahnhof. Zu erreichen ist es über eine Nebenstraße, „Werk Oberbaustoffe Witten“ steht dann daran, man denkt im Vorbeifahren, naja, Oberbaustoffe, was soll das schon groß sein?

Bahndeutsch ist das halt, sehr präzise und sehr unverständlich jenseits des Planeten Bahn: Es sind nämlich vor allem Weichen. Die allermeisten Weichen, die im Netz der Deutschen Bahn liegen, 67 000, die stammen von hier, von der Kronenstraße in Witten. Gute, alte Industrie in 158. Lebensjahr. Sie braucht sich eigentlich nicht zu verstecken.

Brückenkran hebt Weichenteil von 18 oder 19 Tonnen

Werksleiter Holger Schwarz in einer der riesigen Hallen.
Werksleiter Holger Schwarz in einer der riesigen Hallen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Und so kommt es, dass an diesem Vormittag ein Teilstück einer Weiche auf die Reise geht. In der großen Lagerhalle - sie reicht ungefähr bis zum Horizont, viel Werk, wenig Menschen - ist ein gelber Brückenkran über der Weiche aufgefahren, drei Mann machen breite Gurte unter den aufgestützten Schwellen fest. Eine Schwelle wiegt 500 Kilogramm, aber unter diesem einen Weichenstück sind, Moment, 32, 33, 34 Schwellen.

Der Kran hebt das Bauteil längs auf einen offenen Güterwaggon, die Männer messen mit Zollstöcken die Überschreitung der Lademaße nach. Noch im Rahmen. Aber gleichmäßig verteilt muss die Überbreite sein, damit sich nichts herunterruckelt unterwegs. Nach kurzer Zeit liegt das Teil mittig. Herr Mächler, was wiegt das? „18, 19 Tonnen“, sagt der stellvertretende Werkssachverständige Frank Mächler: „Also noch ne kleine . . .“

„Doppelt so schnell wie das Auto, halb so schnell wie das Flugzeug“

Der Güterzug geht auf eine Bahn-Baustelle nach Heilbronn. Und dass das Werk hier an den Hauptbahnhof grenzt, hat plötzlich gut erkennbar einen Sinn.

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Stuttgart 21 haben sie zuletzt beliefert, die Beschleunigungsstrecken für den ICE. Der Schnellstzug fährt jetzt fast genau seit 30 Jahren. Die Werbung damals: „Doppelt so schnell wie das Auto, halb so schnell wie das Flugzeug.“ Damals, im 128. Jahr des Weichenwerks, haben sie auch hier nochmal umlernen müssen: Das hohe Tempo braucht ganz andere Radien.

40 000 Tonnen Stahl braucht die Produktion hier jährlich

„Das ist ein phänomenales Werk, eines der modernsten in Europa“, sagt Werksleiter Holger Schwarz. Schienen werden in Deutschland nicht mehr gebaut, sie kommen aus Österreich; aber Weichen schon: Rund 1400 entstehen im Jahr in Witten. Dazu kommen tausende Reparaturteile. 40 000 Tonnen Stahl braucht die Produktion hier jährlich.

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142.000 Quadratmeter nimmt das Werksgelände in Anspruch, ist also mehr als 20 Fußballplätze groß. Vor 20 Jahren arbeiteten hier noch 2000 Leute, vor zehn Jahren war man herunter auf 300; jetzt sind es wieder 450. Eingeteilt in drei Schichten, jeden Tag zu jeder Stunde. 40 bis 50 Auszubildende kommen noch hinzu.

„Kein Teil kommt von der Stange“

Katharina Gerth macht eine Ausbildung zur Industriemechnikerin.
Katharina Gerth macht eine Ausbildung zur Industriemechnikerin. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Darunter ist beispielsweise Katharina Gerdt, Industriemechanikerin im zweiten Lehrjahr; außerhalb der Verwaltung ist die 23-Jährige die erste Frau hier seit 15 Jahren. Aber sie wollte hier hin, „ich wusste vorher, dass es mir gefallen wird“, und das Büro, in dem sie nach der Schule angefangen hatte, das . . . also, Büro ist nicht ihre Sache. „Natürlich ist man zuerst der bunte Vogel hier“, sagt sie, aber inzwischen habe sich das auch erledigt.

Sie steht jetzt in der Produktionshalle, auch so eine, die bis zum Horizont reicht, gute alte Industrie, wo an Kränen steht „Zulässige Belastung 3200 Kilogramm“ und an Schränken „Notfallplan für Havarie“. Männer fräsen, bohren, schneiden, Spezialteile entstehen hier, Federzungen, Federschienenzungen, viele andere mehr, Sondermodelle, wiederum mit und ohne weitere Sonderbohrungen, und jeder kundige Mitarbeiter kann natürlich an den aufgetragenen Kürzeln sofort erkennen, was es mit dem jeweiligen Teil auf sich hat: „EH54 - 1:9 - L - GL ab 4,75 M.“ Mächler sagt: „Kein Teil kommt von der Stange.“

Bis 2025 investiert die Bahn hier 20 Millionen Euro

20 Millionen Euro wird die DB Netz hier bis zur Mitte des Jahrzehnts investieren. Das nahe liegende Wort von der Weichenstellung soll aber an dieser Stelle unterbleiben. Wir sind ja auch im Werk Oberbaustoffe, und dazu gehören auch Schrauben: In der dritten Riesenhalle, der „Kleinteilelagerung“, sind die Schrauben wie Hände so groß. Also noch kleine.