Ruhrgebiet. Zusehends schaffen sich Menschen Hühner als Haustiere an. Sie schätzen die Eier und den Unterhaltungswert - und haben schnell ihr Herz verloren.
Wo es vom Garten ins Wohnzimmer geht, da ist auch heute wieder Schluss für Berta, Gisela und Miss Sophie. „Sie wollen immer mit rein, aber das machen wir nicht“, sagt Isabelle Meyer und schließt die Glastür. Hühner müssen leider draußen bleiben. Im Regen kuscheln sie nun miteinander unter einem Tisch, drei glückliche Hühner, sie wissen ja: Ins Herz der Meyers haben wir uns längst geschlichen.
Man muss es so sagen: Die Durchschlagskraft von Hühnern ganz allgemein hat Familie Meyer offensichtlich grob unterschätzt. Die drei Hennen sind erst Anfang Januar ganz harmlos im Garten eingezogen, doch jetzt, fünf Monate später, gehören 35 Hühner, Wachteln und Küken zur Familie. „Wir wollen aber auf jeden Fall im einstelligen Bereich bleiben“, sagt Tobias Meyer. Ja, sieht man, schon klar.
„So eine Nachfrage habe ich noch nie erlebt“
In diesen Monaten sind immer mehr Menschen auf das Huhn gekommen. Den Trend melden Geflügelzüchter im ganzen Ruhrgebiet. „So eine Nachfrage habe ich noch nie erlebt“, sagt etwa Thorsten Buderus aus dem Vorstand des Rassegeflügelzuchtvereins Phönix Stiepel: „Seit einem Jahr ist es ganz verrückt.“ Junghennen sind der heiße Stoff, heißer noch als Klopapier im Frühjahr 2020.
Als Jugendlicher, sagt der 51-jährige Buderus, habe er sich „fast geschämt“, zu erzählen, dass er Zwerghühner züchtet, „und heute kommen lauter junge Frauen und wollen Hühner halten“. Dann ist es mit dem Schamgefühl der Herren ganz sicher auch bald vorbei.
„Dass man so viel Liebe für ein Huhn entwickeln kann . . .“
Dabei geht es den meisten nicht um Zucht. Sondern um die Eier aus dem eigenen Garten, schon klar. Viele Menschen haben in der Pandemie auch mehr Zeit, entwickeln neue Interessen und mehr Nähe zur Natur. Wieder andere lassen sich ausgelaugte Legehennen aus Eierfabriken vermitteln. Aber dann unterschätzt man eben auch total, wie Hühner Herzen im Sturm erobern.
Isabelle Meyer aus Bochum beschreibt ihre Gefühle so: „Wenn wir im Garten sind, sind sie immer da, wo wir sind . . . Man will ständig hingucken, was machen sie jetzt . . . Wenn wir wegfahren, stehen sie am Zaun und gucken: Wo fahren die hin? . . . Dass man so viel Liebe für ein Huhn entwickeln kann!“
Expertin: Hühner sind als Haustiere geeignet - wenn Platz da ist
Das Huhn ein Haustier? Nicht im engsten Sinne, einen Garten braucht es schon. „Hühner sind für Familien mit Haustierwunsch oft besser geeignet als Hamster oder Meerschweinchen - wenn Platz da ist“, sagt Stephanie Winkendick, die Chefin des Tierparks Kalisto in Kamp-Lintfort. Man könne mit ihnen kuscheln, sie machten aus Lebensmittel-Resten Eier, und „da sie keine Säugetiere sind, kann man mit der Fütterung nicht viel falsch machen“.
Der anfängliche Aufwand ist freilich etwas größer. Tobias Meyer (47) hat monatelang Youtube-Videos über Hühner geguckt, hat den Fachmann Buderus angesprochen, hat die Gartenhütte umgebaut, einen Stall gebaut und vergrößert - 35 Stück Federvieh, wie gesagt - und zuletzt Tränke und Fütterung automatisiert. Falls man mal längere Zeit nicht da sein sollte, aber wer käme schon auf so einen abwegigen Gedanken? Isabelle Meyer sagt: „Man kann sich auch gar nicht vorstellen, in Urlaub zu fahren.“
Der Fuchs und der Marder kamen auch schon gucken
So hoch ist der Unterhaltungswert der Tiere, dass die drei manchmal auch Hühner-TV aus dem eigenen Garten gucken. Und siehe da: Auch der örtliche Fuchs und der Marder vom Dienst haben sich schon mal unverfänglich umgeguckt; aber Tobias Meyer hat den Stall natürlich als feste Burg angelegt. Auch sonst kann den Hühnern wenig passieren, Luitpold, der Achtjährige, hat nun aufgehört, Hühnchen zu essen, entsagt ihnen sogar in ihrer verborgenen Gestalt als Chicken Nuggets.
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40 Kilometer weiter westlich, in Duisburg, hat Manuela Wesseling ihr Herz an Hühner verloren. Zu Erna, Frieda, Liesel, Gundel sollen Nelli und Irmi kommen, bezogen über den Verein „Hühnerrettung“, zuletzt in Legefabriken tätig. „Die Tiere werden dort nicht als Lebewesen gesehen“, sagt Wesseling. Alte und neue Hühner aneinander zu gewöhnen, sei einfach: Man setze die neuen einfach nachts hinzu, „dann können sich die alten am Morgen nicht erinnern, dass ihre Artgenossen am Vortag noch nicht da waren“.
Demnächst ein Hahn: „Immer mit den Nachbarn abstimmen“
Sie hat auch schon ihre Nachbarn überredet, einige Hühner aufzunehmen. Wie die Meyers in Bochum, Sie erinnern sich an das Projekt: von 35 wieder auf einstellig. Unter den größeren Küken haben die drei nun auch bereits einen Hahn identifiziert, und da könnte natürlich ein krähendes Problem heranwachsen.
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„Im Vorfeld immer mit den Nachbarn abstimmen, sonst gibt es Stress“, rät Thorsten Buderus, der alte Profi. Das haben sie, und Isabelle Meyer sagt: „Den Hahn behalten wir auf jeden Fall.“ Ein bisschen Platz ist noch in ihrem Herzen. Auch Berta, Gisela und Miss Sophie werden das zu schätzen wissen.