Ruhrgebiet. Was bringen der Strategiewechsel? Sind die Lockerungen richtig oder gefährlich? Das sagen Klinkchefs, ein Psychologe und andere.

Zoo, Museum, Shoppen, Leute treffen oder Sport treiben: Ab Montag geht wieder mehr. Trotz Corona -- trotz nicht sinken wollender Inzidenzen, die NRW-weit am Donnerstag bei 62,8 lagen, weit über dem noch vor drei Wochen als Maß aller Lockerungen gepriesenen Wert von 35. Was sagen Mediziner im Revier zu den Beschlüssen, die Bund und Länder in der Nacht nach mehr als neunstündiger Verhandlung verkündeten?

Prof. Dr. Christoph Hanefeld oto: Katholisches Klinikum Bochum
Prof. Dr. Christoph Hanefeld oto: Katholisches Klinikum Bochum © Unbekannt | Dieter Pfennigwerth

Er sei froh, erklärt Prof. Christoph Hanefeld, dass „das Entscheidende im Papier ganz vorne steht: weiter Kontakte vermeiden“. „Das bleibt das Basale!“ Er könne nachvollziehen, räumt der Kardiologe und medizinische Geschäftsführer des Katholischen Universitätsklinikums Bochum (KKB) ein, „dass die Menschen mürbe sind, dass sie eine Perspektive wollen. Aber wir sehen in den Kliniken, was am Ende passiert.

Im KKB wurden seit Beginn der Pandemie 560 Corona-Patienten behandelt, 62 Erkrankte starben. Im Schnitt liegen derzeit noch vier bis sechs Covid-Patienten auf der Intensivstation, ziemlich genau so viele wie vor einem Jahr. „Wir sind noch nicht durch“, glaubt Hanefeld, man sei weit entfernt von der alten Normalität. Die nächsten Wochen würden zeigen, was wird. Er sei zuversichtlich: „Mit Impfungen, Tests und viel Vorsicht kann es gelingen, dass der nächste Sommer besser wird als der letzte.“

„Klinik-Ambulanzen mit in die Impfstrategie einbeziehen“

Aus medizinischer Sicht sei wichtig, so Hanefeld dass die Impfungen in den Seniorenheimen bereits Wirkung zeigen. „Die Alten sind geschützt. Jetzt müssen wir abwarten, was die Mutationen bringen, was bei den Jüngeren passiert.“ Man vermute inzwischen, dass die Inkubationszeit bei der britischen Virus-Variante länger ist als beim Wildtyp, das könnte bei den angedachten Öffnungen zum Problem werden. Und B1.1.7 sei im KKB („Wir sequenzieren alle Proben von Covid-Patienten“) der inzwischen zu 70 bis 80 Prozent vorherrschende Typ. Sorgen bereitet dem Klinikchef zudem das „Long-Covid“-Problem, die Spätfolgen nach der Infektion. Auch fünf Monate danach leide mancher noch unter neurologischen, internistischen oder pulmologischen Symptomen.

Dass Astrazeneca künftig an Ü-65-Jährige verimpft werden soll, findet Hanefeld richtig („wissenschaftlich ist das keine Frage mehr“), genau wie Impfungen bei Haus- und Fachärzten. Er schlägt sogar vor, auch die Kliniken, die in ihren Ambulanzen viele Chronisch Kranke betreuen, mit einzubeziehen: „Wir müssen impfen, was geht. Sobald der Impfstoff da ist: Weg damit!“

Die niedergelassenen Praxen dürfte das freuen: Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzte-Verbandes, forderte gestern bereits „bürokratische Entlastungen, um Impfungen und Tests zusätzlich zur regulären Patientenversorgung stemmen zu können“. Allein das Ausstellen der Atteste zur Priorisierung koste sehr viel Zeit.

Die neuen Regeln helfen, Kontrolle zurück zu gewinnen

Prof. Martin Teufel 
Prof. Martin Teufel  © LVR | Bettina Steinacker

Für Prof. Martin Teufel, den Direktor der Essener LVR-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Essen, sind die Beschlüsse der Bund-Länder kein echter Kurs- oder Perspektivenwechsel. „Aber sie bringen endlich größere Klarheit, sind verknüpft mit spezifischen Markern, einem einfachen und verständlichen Algorithmus. Und das ist wichtig.“

„Wir wissen inzwischen wie resilient die menschliche Psyche ist, übrigens auch die der Kinder. Wir können mit Krisen umgehen. Doch wir sehen auch die Folgen der Pandemie. Teufel veröffentlichte soeben eine aktuelle Studie zu den psychischen Auswirkungen der Pandemie und der beiden ersten Lockdowns. 30.000 Menschen wurden mittlerweile befragt, (darunter auch 400 Corona-Leugner). Zuletzt zeigte sich „eine kontinuierlich hohe psychische Belastung“ der Probanden und eine wachsende „Pandemiemüdigkeit“, Ängste und Depressivität hätten deutlich zugenommen.

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„Wir müssen den Menschen Hilfe geben, ein gewisses Kontrollgefühl zurück zu gewinnen, sich nicht mehr nur dem Virus ausgeliefert zu fühlen “, sagt der Essener Psychologe. Die Fünf-Schritte-Öffnungs-Strategie sei als eine solche Richtschnur gut geeignet – als „Handreichung, wie es weiter geht“. „Wenn wir wieder Kontrolle über unser Leben haben, wenn wir das Gefühl haben, es ist doch irgendwann wieder was möglich, wird die Müdigkeit nachlassen“, hofft er. Fatal wäre, „wenn Corona es anders will“, wenn in wenigen Wochen die jetzt versprochenen Lockerungen zurückgenommen werden müssten.

Intensivmediziner sehen „Licht am Ende des Tunnels“

Entscheidend in Teufels Augen: dass die nun getroffenen Entscheidungen gemeinsam umgesetzt werden, ohne Streit, Bund und Länder künftig mit einer Stimme sprächen. Er sei gespannt, sagt Teufel, „ob sie es dieses Mal hinkriegen.“

Im Übrigen: setzt der Psychologe auf den Sommer, darauf, dass „die Tage länger werden und die Vögel wieder zwitschern“. Helfe immer.

„Licht am Ende des Tunnels“ sehen auch die deutschen Intensivmediziner – sollte es gelingen, den R-Wert innerhalb der nächsten drei, vier Wochen unter 1,2 zu halten. Steige der aber nach den neuen Lockerungen etwa auf 1,4 an, lägen rasch 10.000 Covid-Patienten auf den Intensivstationen, berichtete „Panorama“ unter Berufung auf das neue Prognosemodell zur Intensivbettenauslastung – und zitierte Prof. Christian Karagiannidis: „ Egal wie schnell oder langsam wir jetzt impfen“, sagte der Divi-Sprecher, „wenn wir zu viele Kontakte zulassen und der R-Wert wieder richtig richtig hochgeht, dann fliegt uns das Ding auf den Intensivstationen um die Ohren“. Die bisherige „Rekordmarke“ lag bei 6000 Corona-Patienten. Sie wurde im Januar erreicht.

„Der Strategiewechsel ist unverzichtbar, digital und auf Testungen basiert“

Die neuen Beschlüsse zeigten einen klaren Strategiewechsel, findet Prof. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Essener Universitätsmedizin (UME) – und der sei auch „unverzichtbar, digital und auf Testungen basiert. Der wichtigste Punkt im Papier daher für ihn: „das klare Bekenntnis zur stärkeren Fokussierung auf digitale Lösungen“. Bekenntnisse und Ankündigungen reichen jedoch nicht, um Entwarnung zu geben. „Viel zu viele haben wir davon gehört. Jetzt geht es ums Umsetzen, um nichts anderes mehr.“

65 Patientinnen und Patienten mit Covid 19 werden von der UME derzeit versorgt, davon 22 auf Intensivstationen. Das ist weniger als die Hälfte verglichen mit den Hochzeiten im Dezember und Januar. Tempo und Geschwindigkeit sind für den Klinikchef „unverändert die zentralen Kriterien bei einer Pandemiebewältigung, beim Impfen und auch beim Testen“.

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Deutschland sei dabei bisher „zu bürokratisch gewesen, zu detailversessen und nicht kreativ genug“, meint Werner. „Außerordentlich befremdlich“ sei für ihn auch, wie sehr die Entscheiderkonferenz von Medien und Presse getrieben sei. Der Politik sei zudem die Handlungs- und Deutungshoheit verloren gegangen – und damit auch die Akzeptanz in der Bevölkerung. „Der zuletzt wie eine neue Monstranz vorgetragene Inzidenzwert von 35 taucht nur zwei Wochen später in den Beschlüssen nur noch am Rande noch auf, stattdessen wird jetzt die Zahl 100 eingeführt.“

„Die britische Mutante wird bald die neue Normale sein“

Prof. Dr. Jochen A. Werner
Prof. Dr. Jochen A. Werner © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die britische Mutante werde bald die „neue Normale“ sein, glaubt Werner: „Man muss sich von dem Irrglauben verabschieden, die Mutationen langfristig aufhalten zu können.“ Es gehe darum, den Schaden für die Menschen zu begrenzen. Dabei komme man an digitalen Lösungen nicht mehr vorbei. „Und diese dürften in unserem gesellschaftlichen System kaum vom Bund kommen.“ Werner erhofft sich mehr von privatwirtschaftlichen Steuerungsplattformen, wie der Luca-App zur Kontaktverfolgung oder der Doctorbox-App für die „so notwendige Dokumentation der Schnelltestergebnisse“. In der von einem Berliner Startup entwickelten Doctorbox können Menschen ihre ganz persönlichen Befunde und Medikationen, Arztbriefe und ähnliches als digitale Gesundheitsakte speichern – und sie vorlegen, wem immer sie möchten.

Er hoffe nur, sagt Werner, dass „hier zügig entschieden wird“. Dann könnte man Anfang April „schon ganz schön weit sein“. Bis dahin allerdings, fragt er sich, was am Samstag passiert, wenn die ersten Tests, die im Discounter gekauft wurden, plötzlich „positiv“ anzeigten….