Bochum. Einige Schulen setzen auf Video, andere verschicken Pdfs. Eine Katastrophe, findet die Leiterin der einzigen deutschen Online-Schule.
Wie kann Distanzunterricht gelingen? Sarah Lichtenberger hat als Leiterin der Web-Individualschule in Bochum, Deutschlands einziger reiner Online-Schule, jahrelange Erfahrung. Seit Beginn der Corona-Krise berät sie auch Kollegen und Institutionen.
Seit den ersten Schulschließungen im März 2020 sind etwa zehn Monate vergangen. Was haben Schulen in der Zwischenzeit gelernt?
Lichtenberger: Einige Schulen gehen damit sehr kompetent um. In Bochum haben einige Schulen ihre Schüler mit Werkzeugen wie Zoom oder Teams ausgestattet und bieten täglich lehrplanmäßige Videokonferenzen an. Alle Fachlehrer sind dort greifbar. Es gibt aber auch Schulen in Bochum, die haben seit März noch keine einzige Videokonferenz geführt. In diesem Beispiel reden wir über Gymnasien, die etwa 500 Meter voneinander entfernt sind. Diese Ungleichheit allein in Bochum ist eine Katastrophe. Einige Schüler müssen mit einem Wust an Pdfs zurechtkommen, die anderen werden angeleitet. Wenn es weiterhin an der Freiwilligkeit oder dem Engagement einzelner Lehrer und Schulleiter liegt, dann sind wir verloren. Wir brauchen klare Regeln: Wie viel Videokonferenzen sind mindestens anzubieten? Wie viel persönlicher Kontakt muss sein?
Wie machen Sie es an der Web-Individualschule?
Es gibt uns seit 19 Jahren. Unsere Schüler sind von der Schulpflicht befreit oder sehr krank. Sie befinden sich in Jugendhilfeeinrichtungen, in Psychiatrien oder auch krank zuhause. Jeder bekommt einen Lehrer zugewiesen. Die sehen sich täglich über Skype circa 30 Minuten, besprechen den Tag, bekommen ihre Aufgaben, die sie dann an uns zurücksenden. Bei Fragen sind die Lehrer jederzeit per Chat oder Videoanruf erreichbar. Natürlich ist unser Personalschlüssel eins zu eins. Aber auch an normalen Schulen sind Videokonferenzen möglich. Meine Tochter etwa hat zehn Fachlehrer. Wenn sich da jeder im Wechsel melden würde, käme man auf eine halbe Stunde oder zwanzig Minuten am Tag. Sport, Religion, Musik kann man hintenüberfallen lassen. Ich würde mich ganz klar auf die Hauptfächer konzentrieren. Es gibt ja wie gesagt Bochumer Schulen, die das so machen.
Wie hat die Politik die Zeit genutzt?
Es gibt keine klaren Ansagen. Es gibt keine klaren Richtlinien. Es gibt keine Handreichung für Lehrer. Und auch Mindestanforderungen für Lehrer hätte ich mir gewünscht. Die Unsicherheit der Lehrer ist auch ganz häufig ein Problem. Was darf ich eigentlich? Wie weit kann ich digital gehen? Was soll ich benoten, was nicht? Ganz klar ist: Wir brauchen ein Konzept, in dem nachvollziehbare Vorschriften festgelegt werden. Wie viel Zeit verbringe ich mit persönlichem Kontakt über Videotelefonie? Nicht: Wie viele pdfs muss ich verschicken, ob mit Logineo oder anderen Systemen! Der Lehrer muss greifbar sein.
Der Datenschutz ist kein Problem dabei?
Alle Schüler und Lehrer sind mit Office 365 ausgestattet worden, was Teams beinhaltet. Einige Schulen nutzen es längst, um Videokonferenzen anzubieten, andere schieben den Datenschutz vor. Ich denke, hier muss die Politik Einfluss nehmen. Datenschutz an sich halte ich für wichtig, doch gibt es in Krisen andere Grundrechte, die ein höheres Gewicht haben sollten.
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Trotzdem hat das Schulministerium mit Logineo eine eigene Lösung entwickelt für die datensichere Kommunikation? Was ist davon zu halten?
Es gibt wieder keine einheitliche Linie. Einige nutzen es, andere nicht. Wichtiger als ein weiteres Tool ist die großflächige Verbreitung geeigneter Endgeräte, damit die Schüler überhaupt erreicht werden können.
Wie gut oder schlecht funktioniert Distanzunterricht bei Grundschülern?
Das ist tatsächlich sehr schwierig, da man in den jungen Jahren noch nicht die nötige Aufmerksamkeitsspanne besitzt. Hier würde ich eher auf halbe Klassen in der Präsenz setzen und die andere Hälfte mit kreativen Aufgaben zuhause beschäftigen. Ich denke, wichtig ist, dass eine Vertrauensperson, sprich der Lehrer, für den Schüler da ist, egal ob im Präsenzunterricht oder digital.
Was kann man den Eltern raten?
Auf deren Schultern liegt schon eine schwere Last. Ich selbst bin mit einem Kitakind und einer Tochter an der weiterführenden Schule selbst betroffen. Dazu kommt die berufliche Verantwortung. Die meisten meiner Mitarbeiter kämpfen auch mit der Betreuungssituation und erledigen ihre beruflichen Pflichten. Man wird pragmatisch und versucht, die Erwartungshaltung an die eigenen Kinder zu senken. Beispielsweise kann die Nutzung technischer Unterhaltungsgeräte weniger strikt gehandhabt werden. Wichtig ist, den Kindern Verständnis in dieser Situation zu zeigen.