Essen. Schimanski wurde zur „Tatort“-Legende, aber auch Haferkamp bleibt unvergessen: So prägen die Ermittler aus NRW die erfolgreichste Fernsehreihe.
Warum sollte man eine Tür öffnen, wenn man sie auch eintreten kann? Polternd, fluchend, schwitzend entert Horst Schimanski am 28. Juni 1981 den „Tatort“ und löst eine Fernsehkrimi-Revolution aus. Sie ist im Ruhrgebiet angezettelt worden. Hat der unrasierte Prolet mit der fleckigen Jacke tatsächlich gerade dieses Wort gesagt, fragen sich die Zuschauer am Sonntagabend um zwanzig nach acht in den Clubgarnituren ihrer Wohnzimmer. Ein deutscher Kommissar bei der Polizei? Hat er. Nach handgestoppten drei Minuten 26 Sekunden und einem Fernsehapparat, der aus einer dritten Etage fliegt, fällt der Satz: „Mensch Hotte, du Idiot, hör auf mit der Scheiße!“
Horst Schimanski wird noch ganz oft „Scheiße“ sagen.
„Duisburg Ruhrort“ ist der „Tatort“, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor. 125 Tatorte mit den liebenswerten Herren Trimmel, Veigl, Marek oder Finke, in deren Büros die Kuckucksuhr „Kuckuck“ sagte und in denen es nach Linoleum roch -- und dann sowas. Götz Georges Schimanski, der auf fahrende Autos und aus Hubschraubern springt oder auch mal nackt und vermöbelt im Mittelkreis des Wedaustadions aus seiner Ohnmacht erwacht, würde bald schon größer sein als die ganze „Tatort“-Reihe -- davon ist zum Auftakt allerdings nicht viel zu spüren.
Duisburg ist erstmal empört über Schimanski
Im Gegenteil: Duisburg empört sich. Das Ruhrgebiet will sich gerade neu erfinden, der Welt verkünden, dass es nicht nur aus rauchenden Schloten besteht, und dann diese Werbe-Desaster. Schimanski flaniert
nicht an der Sechs-Seen-Platte, sondern stänkert und prügelt sich durch eine heruntergewirtschaftete Stadt, in der die offenen Wunden beleuchtet werden und nun auch noch bundesweit zu sehen sind: verkommene Straßen, abbruchreife Häuser und verdammt viel Armut. „Man müsste den Drehbuchautoren in den Hintern treten“, tobt ein Bezirkspolitiker der CDU, während Schimanski gerade die Nation teilt und in den Boulevardblättern zum „Ruhrpott-Rambo“ aufsteigt.
Schimanski entstaubt den „Tatort“
Dabei ist diese Schimanski-Serie viel mehr als ordentlich gemachtes Unterhaltungsfernsehen, das ein paar Konventionen sprengt und den Tatort entstaubt. In einer Zeit, in der die soziale Spaltung gerade im Ruhrgebiet immer greifbarer wird, ist Schimanski der Gerechtigkeitssuchende, der den Großen zeigt, dass der kleine Mann nicht alles mit sich machen lässt. Die gesellschaftspolitische Relevanz wird erst später thematisiert, nachdem man sich an den oberflächlichen Reizpunkten abgearbeitet hat. Dass Duisburg heute eine Horst-Schimanski-Gasse besitzt und Schimanski-Führungen einer Düsseldorfer Journalistin Tausende anlocken, ist die wunderbare Schlusspointe dieser in des Wortes Bedeutung merkwürdigen Liebesbeziehung.
In Dortmund wiederholt sich seit 2012 das Spielchen, nur darf man ziemlich sicher sein, dass dem ermittelnden Quartett keine posthume Ehrung zuteil wird. „Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie Kommissar Faber und sein Team in den Ruhestand schicken würden“, ätzte Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) im Januar 2019 in einem Brief an den WDR . Sicher, für Dortmunds Öffentlichkeitsarbeiter ist der „Tatort“ ein einziger Albtraum .
Dortmund versinkt in Depression
Faber (Jörg Hartmann), der sich so perfekt in die Psyche eines Täters hineinarbeiten kann, wechselt den verschlunzten Parka so selten wie Schimanski seine Schimanski-Jacke, das persönliche Schicksal in Form einer getöteten Tochter hat ihn in einen unausstehlichen Zyniker verwandelt. Seine Kollegin Bönisch (Anna Schudt) trifft sich in den ersten Folgen zum Fremdgehen mit wechselnden Bettpartnern im Hotel, das junge, ehrgeizige Polizei-Duo (Aylin Tezel, Stefan Konarske (mittlerweile Rick Okon)) an ihrer Seite giftet sich an.
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Dortmund versinkt hinter einem mentalen Grauschleier in fortwährender Depression, und wenn es gerade mal nicht schäbig genug aussieht, weicht man sogar für ein paar Szenen nach Duisburg aus. Die meist hohe Qualität der Folgen spielt für die Verantwortlichen in der Stadt nur eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt: Sie sehnen sich nach Postkartenmotiven -- hätten sie sich sonst je für den „Tatort“ beworben?
Münster hat da freilich mehr Glück. Nicht nur, weil die Stadt und ihre grüne Umgebung stets so herausgeputzt wirkt, dass man seinen Urlaub nirgendwo anders mehr verbringen möchte. Mit dem maulfaulen Eigenbrödler Thiel (Axel Prahl) und dem schnöseligen Angeber Boerne (Jan Josef Liefers) als Gegenpart feiert der „Tatort“ seit nunmehr 18 Jahren einen Quotenrekord nach dem anderen. Bis zu 14 Millionen Menschen schalten ein, wenn die beiden herumalbern und nebenher noch ein bisschen ermitteln.
Das Publikum liebt Münsters Slapstick
Die Handlung ist zwar nicht immer deutlich erkennbar, aber das Publikum liebt den Slapstick und verzeiht den beiden auch eine gewisse Selbstgefälligkeit. Eine Verfolgungsjagd mit dem Schwanenboot auf dem Aasee kann eben nicht jeder bieten. Ein paar Ermüdungserscheinungen sind unverkennbar, aber bei so viel Liebe auf der anderen Seite des Fernsehers dürfte es noch eine Weile weitergehen. Zuma l ihr jüngster Auftritt in der Vorhölle („Limbus“) bewies, wie viel Potenzial noch immer in Münster steckt.
Noch länger sind Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk (Dietmar Bär) vor ihrer Kölner Currywurstbude im Einsatz. Seit 1997 tauchen sie in die Niederungen des Familienlebens ein, bringen soziale Verwerfungen und Missbrauch ans Tageslicht, arbeiten sich an heiklen Themen ab. Dicke Freunde sind sie längst, auch wenn ihr Weltbild sie trennt: Ballauf mit einer Prise 68er-Spirit, der melancholische Dauersingle mit dem Hang, sich in die Hauptverdächtige zu verlieben, Schenk, der bürgerliche Familienmensch mit einem Faible für schicke Oldtimer.
Köln lieferte mit „Franziska“ einen Glanzpunkt in der „Tatort“-Historie
Manchen Durchhänger hat die Reihe über diese lange Zeit erlebt. 2014 allerdings setzte sie mit der Folge „Franziska“, in der eine langjährige Kollegin als Geisel in den Fängen eines Häftlings schließlich stirbt, einen Glanzpunkt . Dass der psychisch durchaus belastende „Tatort“ erst um 22 Uhr begann, war ein Novum und verhalf ihm zu noch größerer Aufmerksamkeit.
Ballauf ist der einzige Ermittler, der es je von einem „Tatort“-Drehort in einen anderen schaffte. Von 1992 bis 1997 jagte er gemeinsam mit Hauptkommissar Bernd Flemming (Martin Lüttge) Mörder in Düsseldorf.
Der naturverbundene Flemming, mit einem Faible für braune Cordanzüge und dem Apfelreste-Weitwurf Richtung Papierkorb, ist wieder so ein komplizierter Einzelgänger, mit dem man nicht gerne zusammenarbeitet. Und obwohl Lüttge, ein glänzender Bühnendarsteller, sich bemüht, gelingt es der Reihe nicht, größere Spuren in der „Tatort“-Historie zu hinterlassen.
Haferkamp bleibt unvergessen
Das ist mit Heinz Haferkamp aus Essen anders. Wer ältere Fernsehzuschauer nach ihrem Lieblingskommissar fragt , dürfte diesen Namen häufig hören. Hansjörg Felmy stattet ihn zwischen 1974 und 1980 mit einer menschlichen Wärme aus, die berührt. Haferkamp ist geschieden, liebt seine Frau (Karin Eickelbaum) immer noch, seine Versuche, sie
zurückzuerobern, scheitern, man fühlt mit ihm, ohne dass er sich uns aufdrängt. Er hört Jazzmusik und raucht Roth-Händle(!), er trinkt Alt und Korn, er mag Frikadellen, was anderes kann er aber auch nicht kochen. Ein Typ, der sich zurücknimmt, aber umso verbissener nach der Wahrheit sucht.
Ein einziges Mal noch wird man auf Haferkamp nach seinem Abschied aufmerksam. Felmy wirbt auf einem bunten Plakat inmitten grauer Duisburger Tristesse für Polaroid-Kameras. Sein WDR-Tatort-Nachfolger Horst Schimanski schnürt sich die Schuhe davor, blickt kurz hoch und stapft wortlos davon: Die Zeit der stinknormalen Fernseh-Polizisten ist eben endgültig vorbei. Weil seither jeder „Tatort“-Kommissar seine Macken haben muss, darf man das gelegentlich auch bedauern.