Essen. Im Interview beantwortet Virologe Prof. Dittmer Leser-Fragen und macht Hoffnung: Im kommenden Sommer könnte das Schlimmste überstanden sein.

Wo stehen wir in der Pandemie? WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock sprach im Video-Interview mit dem Direktor der Virologie am Uniklinikum Essen, Prof. Ulf Dittmer, darüber, was wir in den kommenden Wochen erwarten müssen und hoffen dürfen im Kampf gegen Corona. Dabei kamen auch aktuelle Fragen der WAZ-Leser zur Sprache. Die Zusammenfassung:

Nach dem deutschen Unternehmen Biontech hat auch das der US-Pharma-Konzern Moderna einen vielversprechenden Corona-Impfstoff vorgestellt: Wie ist der Stand im Rennen um die Impfstoffe?

Dittmer: Zwar steht die Zulassung für beide Impfstoffe noch aus, aber die Schutzraten aus den Reihentests sind erfolgversprechend und mit über 90 Prozent erfreulich hoch. Erfreulich ist zudem, dass die Impfstoffe auch bei älteren Menschen gut zu wirken scheinen. Das ist nicht üblich. Die Nebenwirkungen bleiben nach jetzigem Stand gering. Ein Einsatz der Impfstoffe steht damit hoffentlich bald an.

Verstehen Sie die Skepsis gegenüber dem Impfstoff mit Blick auf die kurze Entwicklungszeit? Derzeit würden sich nur rund 60 Prozent der Deutschen impfen lassen.

Videotalk mit Prof. Dittmer (re.) und WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock
Videotalk mit Prof. Dittmer (re.) und WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock © Screenshot waz.de | Screenshot waz.de

Die Skepsis gegenüber dem Impfstoff kann ich nicht nachvollziehen. Corona ist eine reale Gefahr. Das Virus tötet Menschen. Und derzeit haben wir im Vergleich zur ersten Welle viele 50- bis 60-Jährige im Klinikum mit schweren Krankheitsverläufen. Dagegen kann man sich mit der Impfung schützen. Diese Chance wiegt schwerer als die möglichen Risiken. Und wir davon aus, dass es faktisch kaum Langzeitnebenwirkungen geben wird. Die Impfstoffe von Biontech und Moderna beruhen auf dem Einsatz von RNA – ein Botenstoff, der im Körper sehr schnell abgebaut wird. Und - um das zu betonen: RNA ist eine Kopie eines Teilabschnitts der DNA und kann diese nicht verändern.

Wann können wir damit rechnen, dass der erste Impfstoff zum Einsatz kommt?

Beide Impfstoffe befinden sich in einem rollenden Zulassungsverfahren: Während die Studien in großem Umfang weiter laufen, werden in den Institutionen gleichzeitig die Zulassungsprocedere vorangetrieben – die sich übrigens in den westlichen Staaten alle ähneln. Trotzdem muss ein amerikanischer Impfstoff die EU-Zulassung durchlaufen und umgekehrt. Wir erwarten, dass diese Verfahren in wenigen Wochen durchlaufen sind. Biontech ist noch einen Schritt weiter: Deren Partner Pfizer hat bereits 300 Millionen Impfdosen produziert. Sie sind damit voll ins Risiko gegangen. Das aber macht sich nun bezahlt. Der Impfstoff ist bereits da – und die Impfungen können rasch starten.

Wie muss man sich das vorstellen, wenn man eine 600.000 Einwohner-Stadt wie Essen durchimpfen will? Können sich beispielsweise Impfwillige melden?

Es gibt Eckpunkte der Planung und ethische Vorgaben für eine Rangliste der Impfungen. An erster Stelle stehen etwa Risikogruppen, Senioren und Beschäftigte im Gesundheitssystem. Es folgen Personen in wichtigen Berufen: Polizei, Kita-Personal, Lehrer und so weiter. Aber andere Details, etwa ob es für Impfwillige Listen gibt, sind noch offen. Für das Beispiel Essen steht fest: Es wird mobile Impfteams geben, die in die Alten- und Pflegeheime fahren. In den Kliniken werden die Mitarbeiter intern durchgeimpft. Und es soll große Impfzentren geben, wie möglicherweise in der Messe – wo man ausreichend Platz hat und die Kühlkette sichern kann. Diese notwendige Kühlung des Impfstoffs ist auch der Grund, warum die Massen-Impfung nicht über die Hausärzte gehen kann wie sonst. Der Impfstoff muss bei etwa minus 70 Grad gelagert werden.

Zuletzt gab es lauter werdende Kritik daran, wie die Politik mit der Pandemie umgeht: Viele Maßnahmen erschienen widersprüchlich.

Das mag so wirken. Andererseits ist die Pandemie eine Situation, mit der wir noch nie zu tun hatten, niemand hat ein Patentrezept – und es gibt viele Ideen. Und es gibt in einer Pandemie nie eine gleichmäßige Verbreitung. In Großstädten ist die Situation eine andere wie auf dem Dorf. Im Norden Deutschlands anders als im Süden. Das heißt, in jeder Region sind andere Ansätze möglich und notwendig. Lokale Maßnahmen sind bei einer Pandemie unbedingt sinnvoll. Und niemand hier in Deutschland möchte die Maßnahmen angewendet haben, die in China für geringe Infektionszahlen sorgen. In der Demokratie gilt, dass wir Verantwortung für uns aber auch für andere übernehmen. Bisher hat das in Deutschland gut geklappt. Das heißt aber auch, es muss Einsicht geben in die beschlossenen Maßnahmen.

Kann es eine langfristigere Strategie geben, um mit der Pandemie umzugehen? Momentan wird – so scheint es – stets nur reagiert.

Wir lernen gerade sehr viel. Und es wird daraus sicher einen weiterentwickelten, langfristigeren Pandemieplan geben. Aber keine Pandemie ist wie die andere, jede hängt auch von Zufällen ab. Daher wird es auch in Zukunft immer wieder kurzfristige Maßnahmen geben.

Wie tief müssten die Zahlen sinken, damit Maßnahmen wieder gelockert werden können?

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Das exponentielle Wachstum ist erst mal gebrochen. Das ist wichtig – sonst wären wir in kürzester Zeit in extreme Schwierigkeiten geraten. Aber auch die jetzigen Zahlen können wir im Gesundheitssystem nicht lange durchhalten. Wir können noch eine Woche beobachten, ob es ein signifikantes Absinken der Fallzahlen gibt. Geschieht das nicht, müssen sehr wahrscheinlich härtere Maßnahmen her.

Viele Eltern, Schüler und Lehrer sorgen sich um steigende Fallzahlen an den Schulen. Können wir am Präsenzunterricht festhalten?

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In der ersten Welle wurden die Schulen sofort dichtgemacht, weil man von anderen Viren wusste, dass Schulen ein extremer Verbreitungsherd sind. Bei Corona ist das anders. Das Virus breitet sich unter Schülern nicht stark aus. Es gibt wenig Infektketten in den Schulen. Aber je stärker das Umfeld infiziert ist, desto mehr wird auch in die Schulen getragen. Man muss aber die starken Kollateralschäden einer Schulschließung beachten. Ich denke, das generelle Tragen eines Mund-Nase-Schutz ist – außer für Grundschüler – absolut sinnvoll, gerade auch für Lehrer. Ansonsten ist der Eindruck: Es fehlt ein bisschen an guten Ideen derzeit in der Schulpolitik. Es ist alles sehr schwerfällig. Es werden zuwenig innovative Konzepte entwickelt.

Wie lange müssen wir denn noch Masken tragen?

Die Situation wird sich im kommenden Sommer entspannen. Die Zahl der Infektionen wird witterungsbedingt sinken. Gleichzeitig laufen die Impfungen in vollem Tempo. Daher wird das Virus nach dem Sommer kaum die Chance haben, sich wieder stark zu verbreiten.

Praktischer Rat zum Weihnachtsfest. Geht zusammen feiern?

Entweder man begibt sich als Familie vor dem Fest in eine Art häuslicher Quarantäne und bleibt fünf Tage ohne jeglichen Außenkontakt. Dann ist das Risiko minimiert. Lösung zwei: Risikopersonen tragen eine FFP2-Maske. Diese Masken schützen im Unterschied zu normalen medizinischen Masken (die vor allem dem Schutz der Umgebung dienen) auch den Träger in erheblichem Maße. Die Einschränkung ist: Zusammen essen ginge dann nicht. Gemeinsame Essen lösen häufig Infektketten aus. Das ginge – so unfestlich das ist – nur mit großem Abstand.ftg

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