Essen. In einem Modellversuch werden Apotheker im Revier erstmals in Deutschland Patienten gegen Grippe impfen. Warum Ärzte das für gefährlich halten.

Stuhl und Liege sind schon da, der Nebenraum ist hergerichtet. „Alles gesetzlich vorgeschrieben“, sagt Doris Schönwald, Inhaberin der Nordstern Apotheke in Essen. Genau wie die Impfschulung, die sie absolvieren muss. Theorie ist schon abgehakt, eine neunstündige Praxisübung folgt in den nächsten Tagen.

„Dann kann es losgehen“, sagt Schönwald, die zu den rund 200 Apothekern und Apothekerinnen gehört, die teilnehmen wollen an einem Modellprojekt, das der Apothekerverband Nordrhein (AVNR) mit der AOK Rheinland/Hamburg vereinbart hat: Erstmals in Deutschland impfen in den vier Testregionen Düsseldorf und Umgebung, Essen/Mülheim/Oberhausen, Bonn Rhein-Sieg und Rechter Niederrhein (Duisburg/Niederrhein) nicht nur Ärzte sondern zusätzlich Apotheker Patienten. Zunächst nur gegen die Grippe und auch nur Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg . Trotzdem sind große Teile der Ärzteschaft nicht besonders begeistert.

Wir sind keine Konkurrenz sondern eine Ergänzung“

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„Wir sind keine Konkurrenz sondern eine Ergänzung zum Angebot der Ärzte“, wird Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein, deshalb auch nicht müde zu betonen. „Unser Ziel ist es, die Durchimpfungsraten weiter zu steigern“ – den Anteil der Personen an der Gesamtbevölkerung also, der gegen eine Krankheit geimpft ist. In Deutschland sind laut Experten im Schnitt nur rund 35 Prozent der Deutschen ab 60 Jahren gegen die Grippe geimpft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt als Zielmarke allerdings eine Durchimpfungsrate von 75 Prozent aus. „Da ist noch viel Luft nach oben“, sagt Schönwald.

Ein kleiner Piks. Jedes Jahr gibt es einen neuen Grippeimpfstoff
Ein kleiner Piks. Jedes Jahr gibt es einen neuen Grippeimpfstoff © dpa | Stephan Jansen

Das sieht Günter Wältermann, Chef der AOK Rheinland/Hamburg, ähnlich. Es sei sinnvoll, die Apotheken als patientennahe Anlaufstelle ins Boot zu holen, findet er und verweist auf gute Erfahrungen anderer europäischer Länder. „In Dänemark, Frankreich, England oder der Schweiz, haben Impfangebote in Apotheken nachweislich zu einer deutlich gesteigerten Durchimpfungsrate geführt“, weiß auch Preis. Dort sei vielerorts auch die Zahl der Impfungen in Arztpraxen gestiegen.

Bei Impfung kann es immer Komplikationen geben

Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein kann das nicht beruhigen. „Aus unserer Sicht ist Impfen eine originär ärztliche Aufgabe - schon alleine aufgrund der für Patientinnen und Patienten möglicherweise entstehenden Risiken“, erklärt die KV in einer Mitteilung. Auch bei Grippeimpfung - könne es zu Komplikationen wie allergischen Reaktionen kommen. „In solchen Fällen wäre unverzügliches ärztliches Notfallhandeln erforderlich.“ Zudem könne der behandelnde Arzt in Kenntnis der Krankheitsgeschichte des Patienten etwaige Risikofaktoren für eine Impfung am besten einschätzen.

Da wollen die Apotheken gar nicht widersprechen. „Aber auch bei uns kann man nicht mal eben fünf Minuten vorbeikommen, sich impfen lassen und sofort wieder verschwinden“, stellt Schönwald klar. Stattdessen gebe es vorab eine „intensive Befragung“ des Impfwilligen. Wenn dabei irgendetwas unklar bleibe, „schicken wir ihn ohnehin weiter zum Arzt“. Preis rechnet dann auch nur mit „20 bis 50 Impfen pro Apotheke im Laufe der kommenden Monate, insgesamt mit rund 2000 bis 4000 Piksen. „Das ist nicht mehr als zwei Hausarztpraxen in einem Winter machen.“ Mittlerweile allerdings, so ist zu hören, gibt es mehrere weitere große Krankenkassen, die ähnliche Modellversuche planen.

Nachfrage ist in den letzten Wochen gestiegen

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Wie viele Menschen sich am Ende tatsächlich in einer Apotheke gegen Influenza impfen lassen, kann derzeit niemand sagen. Fest steht aber bereits jetzt, dass die Nachfrage nach der Impfung insgesamt steigt. Wenn man sich schon nicht gegen Corona impfen lassen kann, dann aber bitte doch gegen die Grippe. Damit man im schlimmsten Fall am Ende nicht beides im Körper hat.

Nicht zu lange warten

Die Impfung gegen Grippe sollte jedes Jahr, vorzugsweise im Oktober oder November, durchgeführt werden.

Nach der Impfung dauert es ca. 10 bis 14 Tage, bis der Körper einen ausreichenden Schutz vor einer Ansteckung aufgebaut hat. Am besten ist es daher, sich möglichst vor Beginn der Grippewelle impfen zu lassen.

Aber auch eine spätere Grippeimpfung zu Beginn des neuen Jahres kann noch sinnvoll sein. Die Impfung schützt in aller Regel über die gesamte Grippesaison.

Anders als die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (Stiko) raten mittlerweile immer mehr Kassen auch ihren Kunden außerhalb der sogenannten Risikogruppen die Vorbeugung gegen Influenza. Sollten sich zu viele von ihnen daran halten, gibt es allerdings das nächste Problem. Für die anstehende Grippesaison gibt es nämlich nur – schon vor Corona georderte - 26 Millionen Dosen. Nachbestellung unmöglich.

Impfstoff könnte knapp werden

Das ist zwar viel mehr, als in den vergangenen Jahren jemals benötigt wurde, reicht aber nicht einmal für die Risikogruppen. Wenn sich nur Menschen ab 60 Jahren, Schwangere, Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen, Pflegekräfte und medizinisches Personal sowie chronisch Kranke impfen lassen, werden 40 Millionen Impfdosen benötigt, warnt Stiko-Chef Thomas Mertens. Bei einem „Run auf die Impfung“, fürchtet der Experte, könne es sogar bei der bestehenden Stiko-Empfehlung „knapp werden“.