Ruhrgebiet. Die Corona-Krise, in der in Deutschland schon mehr als 9000 Menschen starben, hat auch gute Seiten für die Gesundheit. Statistisch betrachtet.

Fast 10.000 Corona-Tote beklagt Deutschland in diesen Tagen. Das sind 10.000 zuviel, so viel vorab. Doch das Virus, das selbst Menschen, die es nicht direkt erwischt, schwer krank macht; das die Zahl der Depressionen in nie geahnte Höhen stiegen und Kinderärzte Alarm schlagen lässt; das ganze Existenzen nicht nur wirtschaftlich vernichtet: Dieses Virus, es hat auch gute Seiten für die allgemeine Gesundheit. Statistisch betrachtet.

Weniger Krankenhaus-Keime

In dieser Woche meldete das RKI nicht nur neue, erschreckende Covid-19-Fallzahlen, sondern auch ein „MRSA-Rekordtief“: Bis 3. September hätten sich in diesem Jahr in deutschen Kliniken erst 852 Patienten mit dem gefährlichen Krankenhauskeimen infiziert, gegen die es kaum Antibiotika gibt. Im vergangenen Jahr waren es 1810 insgesamt, im bisherigen Rekordhoch-Jahr 2012 sogar 4.500. Für NRW lagen bis Anfang September 266 Meldungen vor, im Vorjahr waren es insgesamt 589. Dr. Birgit Ross, Leiterin der Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Essen bestätigt die Zahlen: „Stimmt, auch bei uns sieht das so aus.“ Aber das habe vor allem damit zu tun, dass die Kliniken zu Beginn der Corona-Krise ihre Kapazitäten deutlich zurückgefahren hätten, sehr viel weniger Patienten als normal aufgenommen worden seien. „Und damit kamen auch weniger Keime ins Haus, natürlich.“ Zum anderen fürchtet die Hygiene-Expertin, dass bei den RKI-Zahlen noch nachgebessert werden müsse. „Meldeverzug möchte ich in Corona-Zeiten nicht ausschließen….“.

Mehr familiäre Nähe

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Das NRW-Innenministerium überraschte jüngst mit der Nachricht, dass während der Corona-Krise die häusliche Gewalt zurückgegangen sei. Den Angaben zufolge wurden zwischen Anfang März und 23. August „nur“ 15.500 Fälle häuslicher Gewalt gemeldet – satte 17,6 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum (18.900). „Wir hatten tatsächlich den großen Ansturm befürchtet, aber der blieb aus. Im Lockdown war es bei uns und auch bei anderen Frauenberatungsstellen sehr ruhig“, räumt Ute Speier-Lemm ein. Die Diplom-Sozialarbeiterin arbeitet im Bottroper Frauenzentrum „Courage“ und sitzt im Vorstand des Dachverbandes der autonomen Frauenberatungsstellen in NRW. Sie glaube, dass damals eine Art „Schockstarre“ eingetreten sei, dass viele Frauen dachten, Frauenhäuser und Beratungsstellen seien dicht, Hilfe überhaupt nicht zu erwarten. „Zudem saßen ja auch ihre Peiniger zuhause und kontrollierten sie noch mehr als sonst.“ Längst aber hätten sich die Zahlen „leider wieder normalisiert“. Speier-Lemm fürchtet zudem, dass sich die wahren „Kollateralschäden“ des Lockdowns erst noch zeigen würden.

Eine echte Überraschung gab es aber dennoch: „Für viele Familien hatte der Lockdown tatsächlich etwas Positives, obwohl er sehr anstrengend war“,erzählt Speier-Lemm. „Als beide Partner zuhause waren, musste die Arbeit neu organisiert werden, da haben sich viele Väter ihren Kindern genähert. Auch das merken wir.“

Weniger Unfalltote

Kein Stau, nicht einmal ein Auto auf der A 40: Ein Anblick, den man selten sieht – für die Zeit des Lockdowns jedoch nicht untypisch. Auch wenn dieses Foto erst jüngst entstand, nach dem Brand des Tanklasters unter einer Brücke bei Mülheim. Die Autobahn ist seither gesperrt...
Kein Stau, nicht einmal ein Auto auf der A 40: Ein Anblick, den man selten sieht – für die Zeit des Lockdowns jedoch nicht untypisch. Auch wenn dieses Foto erst jüngst entstand, nach dem Brand des Tanklasters unter einer Brücke bei Mülheim. Die Autobahn ist seither gesperrt... © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Viele Pendler blieben während des Lockdowns (und danach) im Homeoffice; die Autobahnen deswegen leer. Selbst das Reisen im eigenen Land verdarb uns das Virus. Das macht sich in den Unfallzahlen bemerkbar: Sie sanken im ersten Halbjahr um 18,6 Prozent auf 1,1 Million bundesweit. Erfreulicher noch: Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden zählte zudem so wenig Verkehrstote (1281) wie nie seit der Wiedervereinigung. Nach einer noch vorläufigen Auswertung waren das 195 weniger Getötete weniger als im ersten Halbjahr 2019. In NRW starben 190 Menschen auf den Straßen, 40 weniger als im Vorjahreszeitraum. „Corona rettet Leben“ lautete eine Schlagzeile, als im März bekannt wurde, dass in jenem Monat „nur“ 58 Verkehrsteilnehmer tödlich verunglückt waren. Ein Jahr zuvor waren es 234.

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Was ist mit all denen, die plötzlich lieber auf zwei Rädern statt in womöglich „verseuchten“ Bussen oder Bahnen zur Arbeit fuhren? Im ersten Halbjahr 2020 wurden laut Zweitrad-Industrie-Verband 3,2 Millionen Fahrräder verkauft – 9,2 Prozent mehr als im Vorjahr… Schon vor Corona seien zunehmend mehr Pendler aufs Fahrrad umgestiegen, sagt Stefan Boltz, Sprecher der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Er habe es als Radler täglich auf dem Weg zur Arbeit selbst erlebt – und man habe es auch an steigenden Unfallzahlen in den vergangenen Jahren sehen können. Ob sich der Effekt im ersten Halbjahr 2020 verstärkt hat, weiß Boltz nicht: Diese Zahlen werden erst im kommenden Jahr ausgewertet, die passende Statistik lieg frühestens im Sommer 2012 vor.

Weniger Verletzungen

Die Experten der DGUV, Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, bereiten gerade eine dezidierte Auswertung der Corona-Zeit aufs Unfallgeschehen vor. Dass die Zahlen rückgängig sind, so Sprecher Stefan Boltz, „ist bereits deutlich erkennbar, bei Arbeits- und Wegeunfällen, vor allem jedoch bei Schulwegunfällen“. Nicht nur Homeoffice und geschlossene Kitas oder Schulen erklärte das: „Auch die Zunahme der Kurzarbeit hat sich vermutlich mittelbar auf das Unfallgeschehen ausgewirkt.“

Allein in NRW sank im ersten Halbjahr 2020 die Zahl der im Verkehr Verletzten um stolze 19 Prozent auf 30.300. Die AOK Rheinland/Hamburg erklärte auf Anfrage aber auch: Zwischen Januar und Juni seien in der Region Rhein-Ruhr insgesamt fast 58 Prozent weniger Menschen wegen Verletzungen krankgeschrieben worden, als in der ersten Hälfte 2019. Dies sei ein „Rekord-Rückgang im 15-Jahres-Vergleich“. „Wir gehen davon aus, dass vor allem das veränderte Freizeitverhalten zu diesem Ergebnis geführt hat“, erklärte Andreas Schmidt, Geschäftsführer des Instituts für Betriebliche Gesundheitsförderung (BFG), das bei der AOK die entsprechenden Daten auswertet. „Sportarten, bei denen das Verletzungsrisiko höher ist, sind weniger ausgeübt worden. Sport im Verein wurde heruntergefahren, Trainingshallen, Fußballplätze und Fitnessstudios waren gesperrt.“

Weniger Infektionen

„Es sei gut möglich, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, kürzlich, „dass die Grippewelle in diesem Jahr harmlos verläuft. Durch die Corona-Routine, das häufige Händewaschen, Maskentragen und Abstandshalten werden Infektionen insgesamt reduziert.“ Die Corona-Hygieneregeln zeigten bereits Wirkung, findet TK-Vorstandschef Jens Baas. Andere Erkältungs- und Infektionskrankheiten hätten weniger Chancen sich zu verbreiten. Auffällig ist auch in den Statistiken der AOK Rheinland/Hamburg, dass einzig in der Diagnosegruppe „Diarrhoe und Gastroenteritis“ die Zahl der Ausfalltage im ersten Halbjahr dieses Jahres sank (von 53 AU-Tagen je 100 ganzjährig Versicherten 2019 auf 49,4). Weniger Kontakte, weniger Durchfallererkrankungen?

Dr. Birgit Ross, Hygiene-Chefin des Essener Uniklinikums, sagt: „Da kann man nur spekulieren, Zahlen liegen mir noch nicht vor. Aber ich hoffe, dass es weniger sein werden als sonst.“ Der November sei die Hochzeit des Norovirus. Dann dann werde man sehen.

Mehr Babys

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Bereits Ende April warnten die vereinten Nationen: vor weltweit sieben Millionen ungeplanten Schwangerschaften – weil im Lockdown auch Lieferketten für Verhütungsmittel unterbrochen waren. Manches Paar in Deutschland aber nutzte die Zeit daheim durchaus gewollt für die Familienplanung. Oder man kam sich im Lockdown einfach so endlich wieder näher. Einige niedergelassene Frauenärzte berichten von mehr (schöner) Arbeit, von „Corona-Schwangerschaften“, vor allem im 2. Quartal des Jahres…. Genaue Zahlen der Krankenkassen oder aus Geburtskliniken liegen noch nicht vor, „Schwangerschaften werden nicht unbedingt frühzeitig bei der Krankenkasse gemeldet“, erklärt Harald Netz, Sprecher der TK NRW. „Der Corona-Baby-Boom müsste uns im Dezember und Januar treffen“, glaubt Benedikt Gottschlich, Leiter der Geburtshilfe der Bochumer Augusta-Kliniken.

>>>>INFO: Krankenstand

Mit 4,4 Prozent sei der Krankenstand (prozentualer Anteil der Fehlzeiten im Job wegen Krankmeldungen) im ersten Halbjahr 2020 kaum gestiegen, erklärt die Technikerkrankenkasse (TK) – auch wenn er im März mit 6,84 Prozent ein Rekordhoch erreicht habe (2019: 4,3 Prozent; 2018: 4,5). Die TK wertete jüngst die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) ihrer bundesweit 5,3 Millionen Versicherten bis Mitte August aus. Ab April sanken die Zahlen wieder, die für Mai, Juni und Juli ermittelten Krankenstände werden als „ußergewöhnlich niedrig“ eingestuft. Verantwortlich für Fehltage waren vor allem Erkältungserkrankungen – hier wurde im März der höchste Wert seit 20 Jahren erreicht. In der zweiten Monatshälfte lag er mit 2,7 Prozent fast doppelt so hoch wie 2019 (1,46 Prozent). „Wir gehen davon aus, dass sich ein großer Anteil des überdurchschnittlichen Krankenstandes durch präventive Krankmeldungen aufgrund der Corona-Pandemie erklären lässt“, erklärte TK-Vorstandschef Dr. Jens Baas. „Die Menschen haben sich an die Empfehlung gehalten, bei Erkältungssymptomen vorsichtshalber zuhause zu bleiben, um andere nicht zu gefährden.“

Für „Covid 19 gibt es erst seit Februar 2020 einen eigenen Diagnoseschlüssel. Diese Erkrankung war bei den TK-Versicherten jedoch schon im März nur für 0,28 Prozent der gesamten Krankentage verantwortlich (Juli 2020: 0,21 Prozent).

Das BFG der AOK Rheinland/Hamburg, mit 1,9 Millionen Versicherten nach der Technikerkrankenkasse zweitgrößte in NRW, stellte für den Zeitraum Januar bis Juni und die Versicherten in der Region Rhein/Ruhr folgendes fest: „zeitweilig eine rekordverdächtige Zahl von Krankmeldungen“, Anstieg des Krankenstandes insgesamt um ein Prozent bei AUs bis 42 Tagen und um 12,4 Prozent bei längeren – sowie eine Verringerung der Fallzahlen. Das heißt: Weniger Menschen waren krank, aber die, die krank waren, waren es länger als sonst. Beispiel Atemwegerkrankungen: Die Zahl der Ausfalltage stieg um 5,6 Prozent, die Fallzahlen sanken um 11,1 Prozent. These der AOK-Experten: Die Menschen gingen in der Lockdown-Phase seltener zum Arzt und Reha-Maßnahmen waren lange ausgesetzt. Dafür spricht, dass sich die Fallzahlen bei den Verdauungserkrankungen am drastischsten verringerten: um insgesamt 16,6 Prozent. Zahnarztbehandlungen fallen in diese Kategorie – und die mieden viele Menschen aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus...