Wuppertal/Wesel. „Die Bundesliga ist nur seelenloser Kommerz“, schimpft Gerrit Starczewski (34) aus Wesel. Der Filmemacher lässt beim Fußball die Hüllen fallen.

Fußball pur im Wuppertaler Zoo-Stadion. „So ein harmonisches Spiel zwischen Deutschland und Holland hat es wohl noch nie gegeben“, sagt Gerrit Starczewski. Der 34-jährige Aktionskünstler ist höchst zufrieden mit dem ersten Spiel der deutschen Nacktionalmannschaft gegen die Niederlande. Kein Druckfehler: Die Länderteams zogen blank – und schufen nicht zufällig jetzt, wenn der große Ball wieder rollt, nackte Tatsachen. Herz gegen Kommerz!

WM in Katar? Pah!

22 Spieler zwischen 19 und 55 Jahren - für Starczewski kommen sie alle: Hobby-Kicker und Amateur-Fußballer, sogar aus Stuttgart und Kiel, beim Match ohne Hemd und Hose. Die Rückennummern aufgemalt mit Wasserfarbe. Sie haben nur die Schuhe an. Okay, und Stulpen, für die Unterscheidbarkeit – orange für die Niederländer, ja natuurlijk, und blau vom Wuppertaler SV für die Deutschen. Mehr Trikot brauche keiner, Brustwerbung nein danke, findet der Initiator aus Hamminkeln und erklärt den Hintergrund seiner Demonstrationssportart: „Das Virus hat gezeigt, dass der Profi-Fußball ohne Zuschauer auskommt. The show must go on – mehr ist da nicht.“ Der Sport an sich und das Erleben in den Stadien stehe längst im Hintergrund. Vorn rolle nur noch die Kohle. Der gebürtige Oberhausener – „in Bochum sozialisiert“ – hat jedenfalls genug davon. Und schließt für sich mit der Bundesliga ab, von Nations und Champions League gar nicht erst zu sprechen. Den Großen zeigt er die Arschkarte. WM in Katar? Pah! „Dem VfL Bochum bleib ich aber treu.“

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Aktionskünstler Gerrit Starczewski ist Initiator der Naked-Fußball-Demonstrationssportart.
Aktionskünstler Gerrit Starczewski ist Initiator der Naked-Fußball-Demonstrationssportart. © dpa | Caroline Seidel

An der Kamera hofft die Kölnerin Anniki Lee auf seltene Aufnahmen mit sonst verdeckten Weichteilen in Bewegungsdynamik. Vor dem Anpfiff wird erstmal stilecht gesungen. Die Nacktionalspieler zeigen bei den Hymnen Haltung, die Hände vor der Brust gekreuzt. Und schmettern bei bestem 18-Grad-Spätsommerwetter nur leicht schräge Töne in die Arena. Zuschauer müssen leider draußen bleiben. Wegen Corona.

Zugelassen immerhin und begeistert als Ehrengäste WSV-Vorstand Thomas Richter, ein Ruhri aus Castrop-Rauxel im Exil, sowie Sportamtsleiterin Alexandra Szlagowski. „Cool“ finden die den „Naked Fußball“. Ganz kurzfristig hatte den von Finanzkrisen geschüttelten Wuppertaler Traditionsverein, in den Siebzigern immerhin selbst Bundesligist, die Anfrage nach der Gratis-Nutzung des Stadions erreicht. Ohne lange Verhandlungen war den Bergischen schnell klar: Mit Sex hat das Projekt um den reinen Fußball nichts zu tun. Auch Voyeurismus liegt da fern. Für den Künstler sind die unverhüllten Körper ein simples Symbol: „Das System ist krank, wir ziehen alle blank“.

Das ist dann eine von zwei Parolen, unter denen man hier fast wie von Gott geschaffen eifrig um den Ball streitet. Die andere Botschaft lautet „Kommerz essen Seele auf“, frei nach dem 1974er Film-Sozialdrama von Rainer Werner Fassbinder. Kein schlechter Vergleich: „Millionenschwere Gehälter und gigantische Ablösesummen haben dem Fußball das Herz genommen“, findet Starczewski. „Und das ist ganz klar auch ein Drama!“

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Den „Pottoriginalen“ auch schon ein Denkmal gesetzt

Seit 2010 inszeniert er Nacktprojekte, erstmals beim Melt-Festival in Sachsen-Anhalt in „Ferropolis“ bei Gräfenhainichen. Eine „Stadt aus Eisen“, dem Ruhrpott ebenbürtig. Früher nur Maloche, Braunkohle und wenig Natur. Dafür echte Typen. „Und auf die kommt’s im Leben an“, meint Starczewski, der solchen „Pottoriginalen“ schon einen Spielfilm widmete. Der zweite Kino-Streich mit dem schönen Titel „Glanz, Gesocks & Gloria“ hat kommenden März endlich Weltpremiere, nachdem das Virus auch dieses Vorhaben lahmgelegt hatte (die Sonntagszeitung berichtete).

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Nackt gegen Elend: Vor Spielbeginn wird die Nummer mit Wasserfarbe auf den Rücken gemalt. Aus Protest gegen die aus ihrer Sicht zunehmende Kommerzialisierung des Profifußballs traten die Mannschaften nackt gegeneinander an.
Nackt gegen Elend: Vor Spielbeginn wird die Nummer mit Wasserfarbe auf den Rücken gemalt. Aus Protest gegen die aus ihrer Sicht zunehmende Kommerzialisierung des Profifußballs traten die Mannschaften nackt gegeneinander an. © dpa | Marcel Kusch

Mit seiner Geschichte rechnet er ebenfalls ab: Als Junge in Hamminkeln die Nummer 14 beim VfR Mehrhoog; Ersatzbank von C- bis zur A-Jugend. Aus dem Seitenaus hat sich der Filmemacher ins Spiel gekämpft. Nach Banklehre, absolviert den Eltern zuliebe, zog’s ihn 2008 zur Fotografie, mit sehenswerten Ausstellungen und Bildbänden.

Alles für die Kunst? Mike Schwarz aus Oberhausen steht beim ersten Nacktionalkick zum zweiten Mal überhaupt erst im Tor. Der 30-Jährige kennt Starczewski als Statist von einem Filmprojekt. Textilfreien Fußball findet der RWO-Fan nur natürlich. Unbekümmert präsentiert er seinen durchtrainierten Körper. Angst hat er keine. „Wenn ein Ball unten rein geht, tut’s immer weh.“ Davor schütze die Hose ja auch nicht.

Und dann mischt der Regisseur selbst mit, lässt sich in der 75. Minute einwechseln. Kleiderlos kämpft Starczewski am Spielfeldrand aber zunächst mit viel zu engen Stulpen: Knallwaden bei 140 Kilo Gewicht und zwei Metern Größe. Seit der Kindheit sei er „eher stämmig“. Und daran gewöhnt, dass immer alles viel zu klein ist. „Die Trikots im Verein haben mir auch nie gepasst.“

„Definier’ dich nicht über Likes, sondern like dich selber“

Seinen Körper mochte er früher nicht. „Das Duschen mit den Kumpels habe ich vermieden, weil ich mich nackt unwohl gefühlt habe“. Heute rennt er locker über den Rasen. „Großartiges Gefühl, sehr befreiend. Man vergisst so schnell, dass man nichts anhat.“ Sagt’s und tritt den Elfmeter zur Krönung barfuß, weil er nach der Stulpenpleite einfach nicht mehr in die Puschen kommt. Der Ball geht drüber. Das ist so egal wie das Aussehen der Spieler: Plauze, Hängehintern, Spargelarme, faltige Haut. Na und? „Wer zu sich und seinem Körper steht, ist immer schön“, haut Starczewski mal eben so raus. Guter Schuss in Richtung Instagram und Co. „Dieser wahnhafte Body-Kult“ der sozialen Medien nervt ihn. „Definier’ dich nicht über Likes, sondern like dich selber“, rät er.

Ach ja – am Ende steht es in Wuppertal 7:5.

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