Mülheim. 170 Bewohner verließen das Mülheimer Altenheim „Haus Ruhrgarten“ in den letzten drei Jahren – fitter, als sie gekommen waren. Das Konzept.
Erika Krüger hat es vor sieben Jahren, nach einer schweren Hüft-Operation, schon einmal geschafft, jetzt versucht sie es erneut: raus zu kommen aus dem Altenheim, heimzukehren in die eigene Wohnung, zurück zu ihrem Mann. Die Chancen, dass ihr Plan aufgeht: stehen gut. Denn die 79-Jährige lebt nach einer erneuten schweren OP seit Juni im Mülheimer „Haus Ruhrgarten“. In den letzten drei Jahren konnten hier 170 Bewohner so fit gemacht werden, dass man sie wieder nach Hause entlassen konnte. Ein ungewöhnliches, neues Konzept steckt dahinter: „Therapeutische Pflege“ nennen sie es.
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Rehabilitativ zu arbeiten, liege im Wesen der Altenpflege, sagt Oskar Dierbach, der geschäftsführende Pflegedienstleiter von „Haus Ruhrgarten“, einer Einrichtung der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim. Doch was genau machen sie hier anders als andere Heime? „Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt“, meint Dierbach: „Wir schauen, was hat diesen Menschen bisher ausgemacht hat, und wir schauen, was er braucht, um ins Leben zurückkehren zu können.“ Den Moment und die Taktung für Therapie-Einheiten gebe dabei der Bewohner vor; der Therapeut richte sich nach dessen Tagesform; die Pflege „mit ihren Teleskop-Ohren“ hielte engen Kontakt zu Ergo-, Physio-und Bewegungstherapeuten; das gesamte Team ist interdisziplinär aufgestellt.
Entscheidend: den Motivations-Schlüssel zu finden
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„Entscheidend“, sagt Dierbach, „ist es aber, den Schlüssel zur Motivation zu finden, die Lust auf Therapie, auf Anstrengung zu wecken.“ Ein solches „Packende“ könnte ein Lied sein, wie jenes „Oh mein Papa“, das er einst zufällig im „Musikcafé“ auflegte – und das eine apathische alte Dame, die noch nie ein Wort gesagt hatte, erst zum Weinen und dann zum Reden brachte. Sie war Zirkusartistin gewesen früher, doch niemand hatte das gewusst. Eine andere, „somnolente“ Heimbewohnerin erweckten ein paar Dahlien aus ihrem Dauerschlaf: Dierbach hatte sie im Garten der Dame gepflückt und in eine Vase in ihr Zimmer gestellt. „Der Duft holte sie zurück ins Leben, sie wollte wieder dahin, wo ihre Blumen wuchsen“, erklärt er. „Und sie hat es geschafft!“
Bei Detlef Schieschke war der „Schlüssel“ leicht gefunden: Dass der 78-Jährige mit dem breiten Kreuz, der stolz (und zurecht!) auf seinen noch immer beachtlichen Bizeps verweist, einmal Leistungssportler war, ist ihm gleich anzusehen. Im Styrumer Turnverein war er aktiv, sogar den Marathon von New York ist er mal gelaufen, und auch Triathlon hat er geliebt. „Armdrücken mache ich mit ihm nicht...“, lacht Ergotherapeutin Sandra Daudert. Und Detlef Schieschke, der so lange so traurig war, lacht mit. Als die beiden sich im Februar im „Ruhrgarten“ kennenlernten, war der demenzkranke Mann, der bisher nur zur Tagespflege gekommen war, bettlägerig, litt an einer offenen Wunde und unter stärksten Schmerzen. „Zuhause ging’s nicht mehr“, weiß er. „Jede Berührung tat ihm weh. Ich durfte nicht einmal seine Zehen bewegen“, erinnert sich Daudert. Sie übte zunächst Klimmzüge mit ihrem Patienten, intensivierte nach und nach das Trainingsprogramm, die Ärzte änderten die Medikation, die Pflege achtete konsequent auf eine schonende Lagerung. Jetzt kommt er fast ganz ohne Schmerzmittel aus. Und kürzlich „erwischte“ Oskar Dierbach Schieschke in seinem Zimmer – bei Liegestützen. „Ich dachte erst, er sei gestürzt….“ Er ist fast wieder der Alte, sage seine Frau: stark und fröhlich.
7,5 Extra-Stellen machen neun Minuten mehr Zeit pro Bewohner und Schicht
In den letzten fünf Jahren, erzählt Oskar Dierbach, habe er mehr Bewohner nach Hause entlassen, als im Heim gestorben seien. Neun Minuten mehr pro Bewohner und Schicht hätten dafür gereicht – 7,5 Extra-Stellen hat er mit den Kassen verhandelt. „Doch da galt es, ein sehr dickes Brett zu bohren“, erinnert er sich. Vor allem weil für Pflege eigentlich die Pflegekasse zuständig ist – und für Reha-Maßnahmen die Krankenkasse. „Das sind in Deutschland getrennte Themen. Aber das muss sich dringend ändern, denn bald sind die Babyboomer die Pflegebedürftigen.“ Der Gesetzgeber müsse für eine bessere Durchlässigkeit die Grundlagen schaffen, fordert auch Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied des Projektpartners AOK Rheinland/Hamburg: „Ziel muss es sein, die disziplinären Grenzen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung abzubauen und eine ganzheitliche Betrachtung des betroffenen Menschen in den pflegerischen Alltag zu übertragen.“
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Die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie hat das „Konzept der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen in den Heimen der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr“ evaluiert, die von der AOK dafür erhobenen Zahlen ausgewertet. Und kam zu einem bemerkenswerten Fazit: Der Ansatz senke nicht nur „die Krankheitslast für den Betroffenen“, sondern auch die Kosten für das Gesundheitssystem. Für die Jahre 2017-2019 zeigten sich nämlich: im Vergleich zu anderen Heimen deutlich niedrigere Werte bei Krankenhaus-, Hilfsmittel- und Arzneimittelkosten pro Bewohner, zudem weniger und weniger lange Krankenhausaufenthalte. Andere Heime, darunter vier in Hamburg, sind schon aufmerksam geworden auf das in Haus in Mülheim, wollen womöglich „nachziehen“. Dierbach freut sich darüber: „Wir wollen das Projekt ja in die Fläche bringen.“ Dem Deutschen Innovationsfond läge ein entsprechender Antrag bereits vor.
Goldene Hochzeit in „Haus Ruhrgarten“ gefeiert
Erika Krüger, die 79-Jährige mit der kaputten Hüfte, feierte vor drei Wochen zusammen mit ihrem Mann Goldene Hochzeit im „Ruhrgarten“. Sie trainiert weiter fleißig, will Muskeln aufbauen, damit sie wieder gehen und allein zurecht kommen kann. Aber damals beschloss das Paar: „Sollte es doch klappen, ich doch nicht mehr zurück können, zieht mein Mann zu mir hierher. Ist doch so schön, hier im Ruhrgarten.“
>>>>>Info: Niedrige Personalfluktuation
54 Vollzeitstellen gibt es in Haus Ruhrgarten (und dem dazu gehörigen Haus Ruhrblick) – für insgesamt 113 Plätze. Über 70 Prozent der Mitarbeiter sind länger als zehn Jahre dabei, einige auch schon 25.
Heimleiter Dierbach führt die niedrige Personalfluktuation auf das Konzept des Hauses zurück: „Wenn jemand erlebt hat, weil es mich gibt, geht einem Heimbewohner besser, findet der auch die nötige Motivation für diesen schweren Beruf. Über Geld allein können Sie Personal nicht halten.“