Xanten. Wo früher Kies gefördert und wild gecampt wurde, ist heute eine der letzen Auenlandschaften der Region. Die Bislicher Insel ist „Natur Pur“
Viel besser kann dieser Tag nicht werden. Jedenfalls nicht für Thomas Kämmerling. Der Leiter des RVR-Eigenbetriebs „Ruhr Grün“ weiß gar nicht, wohin am Himmel er mit seinem starken Fernglas zuerst schauen soll. Schnell zählt er durch. „Eins, zwei, drei…“ Am Ende sind es sechs Störche und vier Schwarzmilane, die da gleichzeitig über ihm kreisen. „Wahnsinn“, findet Kämmerling, hat aber auch eine Erklärung für den nicht alltäglichen Anblick. „Gute Thermik.“ Und der richtige Ort. „So etwas können Sie in NRW sonst nirgendwo sehen.“
Auf der Bislicher Insel schon. Und sogar noch viel mehr. Seeadler zum Beispiel. Gibt es sonst nirgendwo im Land. Oder Löffler. Auch am Boden finden sich erstaunliche Gäste. Sumpfbiber flitzen über Stock und Stein und auf einer großen, eingezäunten Wiese grast eine Herde von Wasserbüffeln. Wobei letztere zugegebenermaßen nicht von allein gekommen sind, sondern von Landwirten gehalten werden.
Der „Alte Fritz“ ließ den Fluss begradigen
Hätte man alles nicht gedacht in den 1980ern. Denn da war die Bislicher Insel von einem Naturparadies so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Kämmerling kennt die Geschichte der Gegend längst auswendig, so oft hat er sie erzählt. Hat erzählt, dass der Rhein sich hier lange so ausbreiten durfte, wie er wollte, bis Friedrich der Große, „Der Alte Fritz“, die Überschwemmungen und langen Wege leid war und den Fluss 1788 mit Hilfe von Deichen begradigen ließ.
Die Schleife aber blieb, verlandete und wurde zu einem stillen Altrheinarm, der nur noch überflutet wird, wenn der Rhein richtig Hochwasser führt. Jahrzehntelang wurden hier Kies und Salz abgebaut. Und als die Bagger abzogen, kamen die wilden Camper. „Alles war voll hier“, sagt der Forstwissenschaftler und macht eine weit ausholende Handbewegung. Dann ging ein großer Teil der Bislicher Insel in den Besitz des Regionalverband Ruhr über. Eine Idylle mit Wiesen und Obstbäumen ist daraus geworden. Eine ursprüngliche Landschaft, menschenleer – zumindest abseits der markierten Wege und Beobachtungshütten.
Jäger schießen nur mit Kameras
Wo es aber erlaubt ist, wird es von Jahr zu Jahr dichter. Zum Wandern, Spazierengehen oder Radfahren kommen sie in eine der wenigen noch vorhandenen Auenlandschaften in Deutschland. Paare, Familien, kleine Gruppen. „Anwohner haben uns die Bislicher Insel empfohlen“, erzählen zwei Ehepaare aus Trier, die schon früh am Morgen mit E-Bikes aufgebrochen sind. Offenbar ein guter Tipp: „Wir sind völlig begeistert. Das ist Natur pur hier“, sagt Gert Wilden, einer der beiden Männer.
Eine Natur, die jede Menge Jäger anzieht. Aber sie schießen keine Tiere, sie schießen Fotos. Je nach Tag und Wetter kommen die Naturfotografen und Vogelbeobachter gegen Mittag und stehen bald wie an einem Laufsteg in langer Reihe nebeneinander. Sie halten sich starke Ferngläser vor die Augen oder blicken durch die Sucher ihrer teuren Kameras mit den langen, großen Objektiven.
„Man braucht viel Glück und noch mehr Geduld“
Doch anderes als Mannequins sind Vögel nicht scharf darauf beobachtet oder fotografiert zu werden. Einer der Fotografen nickt. „Man braucht viel Glück und noch mehr Geduld“, weiß Theo Siebert, Rentner und Dauergast auf der Insel (die geographisch gesehen gar keine ist). Und selbst dann ist nicht sicher, dass man sieht, was man sucht.
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Der Seeadler etwa, mit einer Flügel-Spannweite von zweieinhalb Metern Nordeuropas größter Vogel, legt wenig Wert auf Öffentlichkeit. Und bei RVR Ruhr Grün tun sie alles, um diesem Wunsch nachzukommen. Schließlich ist das Paar auf der Bislicher Insel bisher das einzige in Nordrhein-Westfalen.
Vermutlich ist es aus den Niederlanden herüberkommen. Das erste seit mindestens 200 Jahren. „Für die ist das wie im Paradies hier“, sagt Kämmerling. Mit einer reichlich gedeckten Speisekarte aus Wasservögeln und Fischen, aber ohne natürliche Feinde. 2017 hat das erste Paar gebrütet, auch 2018 und 2019 gab es kleine Seeadler. 2020 aber haben ein Sturm und gedankenlose Menschen weiteren Nachwuchs verhindert.
Seeadler wurde bei der Brut gestört
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„Tragisch“ nennt der Ruhr-Grün-Chef, was da in diesem Spätwinter und Frühling passiert ist. Mitte Februar lässt Sturmtief „Victoria“ die Pappel in den See rutschen, auf der die Adler drei Jahre erfolgreich gebrütet hatten. Daraufhin baut das Paar einen zweiten Horst, aber der liegt nicht abseits genug. Erst belagern uneinsichtige Fotografen das Nest, später lassen Besucher dort sogar ihre Hunde spielen und vertreiben die sensiblen Vögel. Die bauen sogar noch einen dritten Horst, zu einer Brut allerdings kommt es nicht mehr.
„Aber das Paar ist geblieben“, sagt Kämmerling und versichert: „Im nächsten Jahr werden unsere Ranger dafür sorgen, dass es nicht gestört wird.“ Bei den Löfflern, die in NRW auch nur hier brüten, hat das gut geklappt. „Alle Horste leer, der Nachwuchs flügge“, ist Kämmerling zufrieden.
Jedes Jahr im Herbst kommen die Zugvögel
Auf einer eingezäunten Weide mit kleinem See verrichten derweil spezielle „Landschaftspfleger“ ihren Job. Von April bis November lebt hier eine Herde Wasserbüffel und frisst auch schwer verdauliche Binsen, Röhrichte und Sträucher. „So halten sie die Außenfläche frei“, erklärt Kämmerling.
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Nachmittag ist es geworden und der Mann von Ruhr-Grün könnte noch bis in den Abend erzählen. Aber schon erinnert ihn ein Anruf an den nächsten Termin. Deshalb blickt er nur noch kurz in die kommenden Monate. Wenn sie in atemberaubenden Formationen wiederkommen aus Sibirien: rund 170.000 Zugvögel, darunter bis zu 150.000 Blässgänse und 15.000 Saatgänse, die auf der Bislicher Insel und ihrer Umgebung überwintern. „Ein unglaublicher Anblick“, sagt Kämmerling und stellt zum Abschied einmal mehr fest. „Also eigentlich gibt es hier immer etwas zu sehen.“
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