Bochum/Ruhrgebiet. Neue Quarantäneregeln und die kurzfristige Ausweisung von Risikogebieten verunsichern Urlauber. Reisebüros erleben eine Stornoflut.

Heute noch Traumziel, morgen schon Risikogebiet – und vom Strand ab in die Quarantäne? Die Regeln für Reisen ändern sich derzeit extrem schnell, was Urlauber zusätzlich verunsichert und die Tourismusbranche Umsatz kostet, der im Existenzkampf dringend gebraucht würde.

Achim V. wäre derzeit eigentlich an der litauischen Ostsee. Mit seiner Schwester hatte der Bochumer schon im November eine einwöchige Radtour auf der Sandzunge der Kurischen Nehrung geplant, am Montag hätte es losgehen sollen. Doch drei Tage vor der Reise meldete sich seine Fluggesellschaft: Sein Rückflug nach Kopenhagen sei gestrichen, mit der Alternative hätte der 63-jährige Sozialwissenschaftler seinen Anschluss nach Düsseldorf nicht mehr bekommen. Nach drei Stunden Hickhack buchte er auf eigene Rechnung einen neuen Anschlussflug mit Eurowings. Doch dann rief Wikinger Reisen an.

Auch Deutschland ist für manche Länder Risikogebiet

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Von Theresa Martus, Alessandro Peduto und Tobias Kisling

Der Veranstalter seiner Radtour warnte, dass Lettland Deutschland zum Risikogebiet erklärt habe – erfahrungsgemäß würde Litauen nachziehen. Was es auch tat. Für aus Deutschland kommende Reisende gilt nun eine 14-tägige Quarantänepflicht. „Ich hatte schon gelesen, dass Litauen jeden Montag die Situation neu bewertet. Und es ist dann genauso blöd gekommen, wie ich befürchtet hatte.“ Immerhin hat Wikinger bereits den Reisepreis erstattet, bei seinem neuen Anschlussflug ist Achim V. nun auf Kulanz angewiesen. Vor allem aber ist der Urlaub hinüber.

Auch Deutschland erklärt Regionen recht spontan zu Risikogebieten: Mallorca, Paris, die Côte d’Azur, Teile Kroatiens … „Das schürt eine absolute Verunsicherung“, sagt Michael Wolf, der mit seiner Frau Barbara ein „Tui ReiseCenter“ in Essen-Kettwig betreibt. „Viele Kunden schieben nach Möglichkeit alle Reisepläne ins nächste Jahr.“ Natürlich hat er Verständnis. „Durch die Schwankungen können auch wir keine seriöse Aussage treffen, was in drei oder vier Wochen sein wird.“ Vor einem Monat habe man noch Mallorca empfohlen. „Auch wir laufen vor eine Gummiwand.“

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So mag es nicht wundern, dass die Branche ihre Situation bitter einschätzt. Nach einer Umfrage des Deutschen Reiseverbandes (DRV) unter fast 650 Reisebüros sehen sich mehr als 60 Prozent akut von der Insolvenz bedroht. Bei den Reiseveranstaltern schätze gut die Hälfte ihre Situation so ein. Knapp die Hälfte der Reisebüros habe bereits Mitarbeiter entlassen müssen, ähnlich sehe es bei den Reiseveranstaltern aus. „Viele Unternehmen sind in ihrer Existenz bedroht und müssen kämpfen, um die Krise zu überstehen“, sagte DRV-Präsident Norbert Fiebig dem „Handelsblatt“. Dies zeige, wie wichtig und richtig es sei, dass jetzt die staatlichen Überbrückungshilfen bis zum Jahresende verlängert worden seien.

Grund für zarten Optimismus

Marija Linnhoff, Chefin des Verbandes unabhängiger selbstständiger Reisebüros (VUSR)
Marija Linnhoff, Chefin des Verbandes unabhängiger selbstständiger Reisebüros (VUSR) © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Darüber freut sich auch Marija Linnhoff vom Verband unabhängiger selbstständiger Reisebüros (VUSR). Sie schätzt, dass rund 40 Prozent der Agenturen vor dem Aus stehen. „Das schmerzt mich sehr. Doch bei den übrigen 60 Prozent gibt es auch viel Optimismus – fürs kommende Jahr. Gerade gehen Hunderte von Stornos ein wegen der neuen Regeln, aber viele Kunden setzen das Geld wieder ein für ihren Urlaub in 2021, das zieht an.“

Wichtig sei nun, dass der Absicherungsfonds für Pauschalreisen wie geplant am 1. November in Kraft trete, um der Branche Stabilität zu geben. „Sonst erleben wir wieder ein Desaster wie bei Thomas Cook.“ Und die Reisewarnungen müssten stärker differenziert werden, fordert Linnhoff. „Wenn auf Gran Canaria die Zahlen steigen, muss man nicht Fuerteventura dichtmachen. Und auch auf Mallorca kann man sicher Urlaub machen in bestimmten Ecken.“

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Doch Mallorca ist seit zwei Wochen Risikogebiet – mit Folgen. Seitdem ging die Auslastung der Ferienflieger von Eurowings um ein Viertel zurück, erklärt Sprecher Florian Gränzdörffer. „Und die Leute buchen immer kurzfristiger.“ Dennoch fielen in Düsseldorf nur einzelne Flüge aus, sagt Gränzdörffer. Das Unternehmen versucht zunächst kleinere Maschinen einzusetzen, andere Zeiten zu wählen oder Flüge zusammenzulegen. „Aber auch dies geschieht nur vereinzelt und betrifft Ziele, die wir mehrfach täglich ansteuern.“

Eine fixe Untergrenze für die Belegung gibt es dabei nicht, denn Eurowings muss auch die Rückflüge berücksichtigen, ebenso wie mögliche Hotelkosten. Mit einem recht kreativen Modell versucht die Airline nun, die gegensätzlichen Bedürfnisse nach Auslastung und Abstand zu verbinden: Kunden wird auf wenig gebuchten Flügen der „freie Mittelsitz“ gegen einen moderaten Aufpreis angeboten.

Info: Umsatz auf weniger als ein Viertel gesunken

Laut Umfrage des Deutschen Reiseverbandes beziffern 70 Prozent der Reisebüros und knapp zwei Drittel der Veranstalter ihren derzeitigen Umsatz auf weniger als ein Viertel des Vorjahresumsatzes. 85 Prozent der Reiseveranstalter und fast 80 Prozent der Reisebüros haben zudem Kurzarbeit, 76 Prozent der Veranstalter und fast 85 Prozent der Reisebüros Überbrückungshilfen beantragt. (mit dpa)