Essen/Dortmund. Die Zahl der SARS-CoV2-Infizierten im Ruhrgebiet steigt wieder. Halten sich immer weniger Menschen noch an die Corona-Regeln?
Am Ende ist es vielleicht alles eine Frage von Zeit und Ort. In Berlin gehen sie am Samstag gegen Corona-Regeln demonstrieren, im Ruhrgebiet gehen sie einkaufen. Mit Maske und mit Abstand. Wobei letzteres auch nicht schwierig ist. Auf dem Dortmunder Westenhellweg etwa ist es gegen Mittag für einen Samstag fast schon menschenleer.
Kein Gedränge, kaum Schlangen – nicht mal auf dem Wochenmarkt, wo die meisten Besucher Masken tragen, obwohl es derzeit kein städtisches Schild gibt, das sie dazu auffordert. „Wir fühlen uns“, sagen zwei junge Frauen, „hier ziemlich sicher.“ Und beim Bäcker an der Ecke oder in einer der Filialen einer großen Modekette schüttelt das Personal den Kopf, wenn man nach Zwischenfällen fragt. Von ein „paar Idioten“ ist die Rede aber ansonsten „halten sich fast alle an die Regeln“.
Regeln werden besser beachtet, wenn sie eindeutig sind
Auch Frank Fligge, Sprecher des Nahverkehrsunternehmens DSW21, kann nach umfangreichen Kontrollen an und in verschiedenen Haltstellen und in Bussen und U-Bahnen eine steigende Zahl von Verstößen nicht bestätigen. „Der weitaus größte Teil der Fahrgäste trägt Masken und achtet – wo immer möglich – auf den nötigen Abstand.“ Davon ab, hat er festgestellt, „werden Regeln besser beachtet, wenn sie eindeutig sind und sich nicht alle paar Wochen ändern.“
Die Uni Heidelberg geht noch ein Stück weiter und verweist auf die Ergebnisse einer neuen Studie: Je wahrscheinlicher es erscheine, bei Verstößen ertappt zu werden, desto eher würden die Menschen sich an die Regeln halten. Grundsätzlich befolgen laut Umfrage mehr als 96 Prozent die Regeln.
Feiern ohne Maske und Sicherheitsabstand
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„Unsere Ausgangslage ist im internationalen Vergleich immer noch sehr gut“, bestätigt Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Uni Bochum. Er hat gerade eine repräsentative Studie abgeschlossen, für die in acht Ländern jeweils 1000 Menschen zum Umgang mit Corona befragt wurden. „Dabei ist herausgekommen, dass die Bereitschaft, sich an die Corona-Regeln zu halten in Deutschland, am höchsten ist“, sagt Margraf.
Natürlich gibt es Ausnahmen, gibt es Hunderte von Fans, die sich in Mönchengladbach zum 120. Geburtstag ihrer Borussia vor dem Stadion treffen und feiern. Oder Tausende junger Leute, die auf den Partymeilen des Ruhrgebietes in den derzeit lauen Sommernächte miteinander feiern. Ohne Maske und Sicherheitsabstand.
Psyche ist nicht auf Dauerkrise eingestellt
Jürgen Margraf will solchen Leichtsinn nicht entschuldigen, er kann ihn aber erklären. Die menschliche Psyche sei auf eine Dauerkrise nicht eingestellt. „Sie können nicht über Monate ständig wachsam sein.“ Zumal es Bilder von hoffnungslos überfüllten italienischen Kliniken oder sich stapelnden Särgen mittlerweile zum Glück nicht mehr gebe.
Deshalb müsse man jetzt appellieren: „Wir haben das so gut hinbekommen hier, so viel besser als in anderen Ländern. Das wollen wir uns nicht kaputt machen.“ Denn das zeige die Studie auch: „Wer sich der Gemeinschaft, der Gesellschaft zugehörig fühlt, der ist eher bereit, sich an die Maßnahmen zu halten.“
Auf dem Westenhellweg ist es unterdessen am späten Samstagnachmittag so voll, dass sich Martina Dietz in der Schlange vor einem Modegeschäft „leicht mulmig“ fühlt. „Vor dem Laden tragen ja nur wenige eine Maske“, sagt die 52-Jährige. Ist ja draußen auch keine Pflicht aber sehr ratsam, wenn mehrere Menschen eng beieinander sind, sagt Mirko Trilling, Professor am Institut für Virologie am Universitätsklinikum Essen. Beim Spaziergang in einem Park würde er auch keine Mund- Nasen-Bedeckung tragen, erklärt der Virologe.
Mit jeder Begegnung steigt das Infektionsrisiko
„In einer vollen Fußgängerzone sieht das jedoch anders aus.“ Denn mit jeder Begegnung - im schlimmsten Fall maskenlos und sehr nah beieinander – steige natürlich das Risiko einer Infektion. Es bestehe kein Grund zur Panik, sagt Trilling, aber es gebe auch überhaupt keinen Anlass zur Entwarnung. „Bis es eine sichere und schützende Impfung gibt und die allermeisten von uns geimpft sind, müssen wir lernen, uns auf die Anwesenheit des Virus einzustellen und uns so gut wie möglich vor der Infektion zu schützen.“
Das allerdings fällt selbst einsichtigen Menschen im Revier manchmal noch schwer. Ob in Freizeitparks, bei Familienfeiern oder in Restaurants. Wer sich durch die sozialen Medien klickt, findet schnell Klagen und Beschwerden. Zu voll ist es angeblich gewesen, zu wenig Rücksicht werde genommen, „zu dumm“ seien manche Zeitgenossen offenbar, sich eine Maske richtig aufzusetzen, heißt es da.
„Zugeständnisse“ sind besser als „Lockerungen“
Heinz Grüne vom Rheingold-Institut in Köln, das sich seit drei Jahrzehnten mit tiefenpsychologischer Marktforschung beschäftigt, kennt solche Beschwerden, will aber in einigen Fällen eine falsche Wahrnehmung“ nicht ausschließen. „Wenn Sie 100 Leute mit Masken sehen und einen, der keine trägt, dann bleibt genau der in Erinnerung.“
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Eine gewisse Nachlässigkeit aber hat auch Grüne festgestellt. Er hält unter anderem den Begriff „Lockerungen“ für falsch. Das Wort „Zugeständnisse“ sei „viel besser“. „Ansonsten wird die Botschaft vermittelt, die Dinge seien wieder so, wie vor der Pandemie. Aber das sind sie noch lange nicht.“