Velbert/Hattingen. Die ev. Gemeinde Nierenhof hält und aktiviert Mitglieder – gegen den Trend. Was macht der Velberter Pfarrer anders? Ein Gottesdienstbesuch.

Als die Glocken von Velbert-Nierenhof verstummen, ruft Pfarrer Dirk Scheuermann zu einer Minute der Stille auf. Für wen? Für diesen Gottesdienst. Das Zirpen der Grashüpfer, sonst Hintergrundrauschen der Schöpfung, greift Raum. Über hundert Menschen haben an diesem Sonntagmorgen hinter ihrem Gemeindezentrum auf Campingstühlen Platz genommen, mit Schirm, Sommerhut und Käppi. Darunter ein guter Teil im mittleren und jüngeren Alter, mehrere aus Nachbarstädten. „Einen herzlichen Sommergruß auch an alle, die im Urlaub sind und Zuhause.“ Der Kameramann gönnt einen Rundblick. „Wenn ihr auf der Wiese mal grüßen wollt.“

Der allgemeine Schwund an Mitgliedern ist dramatisch

Das Mikro gehört selbstverständlich dazu. für die Akustik auf der Wiese, aber Dirk Scheuermanns Predigt wird auch gestreamt.
Das Mikro gehört selbstverständlich dazu. für die Akustik auf der Wiese, aber Dirk Scheuermanns Predigt wird auch gestreamt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Wir sind zu Gast, weil die evangelische Gemeinde Nierenhof zu Hattingen und Velbert recht erfolgreich darin ist, Mitglieder zu halten und vor allem zu aktivieren – gegen den Trend. Denn noch nie haben so viele Protestanten und Katholiken ihre Kirche verlassen wie im Jahr 2019, also noch vor der Corona-Krise. Exakt: 542.771 Menschen. Eine Studie sagt voraus, dass bis 2060 nur die Hälfte der heute 43 Millionen Kirchenmitglieder übrig bleiben. Doch sollte sich der Trend fortsetzen, könnte es noch schneller gehen.

Dagegen hat Nierenhof seine Mitglieder seit 2014 stabil gehalten – was sicher nicht nur auf soziale Faktoren zurückzuführen ist, denn besser gestellte Gemeinden lassen genauso Federn wie die sozial schwächeren. In diesem Zeitraum haben in Westfalen laut Landeskirche nur 15 von 490 evangelischen Gemeinden Mitglieder dazugewonnen.

Außergewöhnlich macht die Velberter Gemeinde etwas anderes: Als Dirk und Claudia Scheuermann vor 27 Jahren herkamen, kamen etwa 60 Menschen zum Gottesdienst. Heute, ohne den Coronaeffekt, sind es über 400 – im Schnitt. Das ist mehr als ein Fünftel aller Gemeindemitglieder. Fast ebenso viele arbeiten sogar ehrenamtlich mit.

Die Ehrenamtlichen tragen den Gottesdienst

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Etwa dreißig haben an diesem Sonntag zwei Stunden lang Stühle desinfiziert. Haben den Altar aufgestellt, ein Biertisch mit selbst gemaltem Tuch darauf, zwei Kerzen, zwei Sträuße, das Buch der Bücher. Daneben ein mannshohes Holzkreuz, angebunden an eine Stütze des Ballfangnetzes. Die fünfköpfige Jugendband steht unter zwei Gastroschirmen bereit -- nur eine von vieren, die die Gemeinde herangezogen hat.

Die Kinder- und Jugendarbeit sei der Schlüssel, sagt Scheuermann. Als das Ehepaar startete, war der Kindergottesdienst ein Anhängsel des normalen. Heute bieten sie Kinderbetreuung für die ganz Kleinen an, einen Kindergottesdienst ab drei Jahre, einen für Schulkinder und einen für die Katechumenen. Alles parallel!

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„Viele Gemeinden haben gar keinen Kindergottesdienst mehr, zumindest keinen kontinuierlichen“, bedauert Scheuermann. Der aus Velbert wird gestreamt. Freitags gibt es den Jugendtreff, unter der Woche Kleingruppen. Eine „Wohnwoche“ lang leben 80 Jugendliche im Gemeindehaus, eine Freizeit ist selbstverständlich. Besucher Christoph Möller (55) sagt: „Dadurch gibt es viele Jugendliche, die nach der Konfirmation dabei bleiben. Und viele Eltern wurden fasziniert.“

Loslassen ist die Kunst

Die Sonne scheint, die Band spielt, Gottesdienst-Profis bringen ihren Sonnenschirm mit.
Die Sonne scheint, die Band spielt, Gottesdienst-Profis bringen ihren Sonnenschirm mit. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

All das funktioniert, glaubt Scheuermann, weil er den Ehrenamtlichen die Verantwortung lässt. „Sie entdecken eine sinnvolle Tätigkeit.“ Es ist von Vorteil, dass er ein guter Redner ist – doch wer weltbewegende Inhalte vermutet, liegt falsch. Heute ist sein Thema Matthäus 28, „der Missionsbefehl“: „Wenn euch, auch euch zuhause, das so richtig bewusst ist, dass ihr das auserwählte Volk seid, dann könnt ihr gar nicht anders, als von dieser Freude und Liebe anderen weiterzusagen.“ Es ist reine Selbstbekräftigung des Glaubens.

Von zehn seiner Gottesdienste haben vielleicht ein oder zwei „einen politisch aufbereiteten Aspekt“, schätzen die Besucher Sabine Hardt (49) und Anne-Katrin Möller (61). „Sie sind durchaus extrem darauf ausgerichtet, den eigenen Glauben zu stärken.“ Und die Gemeinschaft. Als Ali, ein Flüchtling, der zum Christentum konvertiert ist, sein Anerkennungsverfahren hatte, sind mehr als 50 Gemeindemitglieder mit ihm nach Düsseldorf gefahren. „Sowas hatte das Gericht noch nie erlebt.“

„Wenn in der Kirche Politik gemacht wird, interessiert es die Leute nicht mehr", bestätigt Dirk Scheuermann. Er setzt sich dosiert ein. Als Merkel in der Flüchtlingsfrage persönlich angegangen wurde, hat er in der Stadt eine Rede gehalten. Psalm 4: „Ihr Herren, wie lange soll meine Ehre geschändet werden?“ Im Normalfall genügt ihm aber das einfache: „Fürchtet euch nicht!“